Die Wiener Kanalisation hat heute vor allem eine Funktion: Das Abwasser weiterzuleiten. Doch vor nicht einmal hundert Jahren waren die Kanäle Zufluchtsort und sogar Arbeitsplatz der Ärmsten der Gesellschaft. Die Geschichte der „Strotter“ von Wien.
Das Wiener Kanalisationsystem umfasst rund 2.500 Kilometer. Das entspricht ungefähr der Entfernung von Wien nach Paris und wieder zurück. Bereits 98,8 Prozent aller Haushalte sind daran angeschlossen. Das ist im internationalen Vergleich ein Spitzenwert. Täglich werden 15 Tonnen abgelagertes Material gefördert. Dabei hat die Kanalisation der Hauptstadt eine lange Geschichte: Bereits 1739 war Wien die einzige Stadt, die innerhalb der Stadtmauern vollständig kanalisiert war. Mit der Regulierung des Wienflusses und dem Bau der Sammelkanäle entstand im 19. Jahrhundert ein weitläufiges Kanalsystem unter der Stadt.
Wien erhielt eine eigene Stadt unter der Stadt.
In den strengen Wintern des 19. Jahrhunderts wurde das Kanalsystem Wiens ein Zufluchtsort für Obdachlose. Sie besiedelten Gänge, Kammerln und schmale Röhren. „Griasler“, wie man damals zu den Obdachlosen sagte, suchten die Kanalisation auf, weil sie ihnen Schutz vor Wind und Kälte bot. Doch der Zufluchtsort war auch gefährlich: Die Obdachlosen waren so der Bedrohung durch die starken Hochwässer ausgesetzt. Diese füllten die Kanäle und durchfluteten die Unterkünfte der Griasler im Kanalsystem. Die Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, wurden in den Wienfluss geschwemmt.
In den Wiener Kanälen lebten also die Ärmsten der Armen. Für viele war der Untergrund Lebens- und sogar Arbeitsgrundlage: Unter den Griaslern gab es noch die sogenannten „Strotterinnen und Strotter“. Der Begriff Strotter kommt vom Altwiener Ausdruck “strotten”, was so viel wie “in Abfällen herumsuchen” bedeutet. Diese Menschen versuchten, aus dem Abwasser noch etwas Verwertbares heraus zu fischen. Dabei wurde zwischen Metall-Strottern und Fett-Strottern unterschieden. Erstere suchten nach verlorenen Münzen und dergleichen. Zweitere angelten mit Netzen Fett und Knochen aus dem Abwasser. Für wenig Geld verkauften sie diese an die Seifenindustrie.
Die Heimat der Strotter befand sich unterhalb des Schwarzenbergplatzes. Hier befindet sich unterirdisch in der Kanalisation ein großer Raum mit vielen Zuleitungen. Sie wurde umgangssprachlich „Zwingburg“ genannt, der Zugang war nur über ein Holzbrett erreichbar. Dieses wurde bei Polizeikontrollen einfach eingezogen. Somit war die Flucht über die vielen Zuleitungen und Kanäle leicht möglich.
Die Journalisten Max Winter und Emil Kläger aus Wien machten mit ihren Sozialreportagen und Geschichten auf die Zustände aufmerksam, unter denen die Armen und Obdachlosen leben mussten. Um deren Lebensbedingungen zu verbessern, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts Obdachlosen- und Männerheime geschaffen. Zudem wurde mit dem Plänen des Roten Wiens und dem Wiener Wohnbau versucht, den Problemen entgegenzuwirken.
Ab den 1930er Jahren wurde vermehrt die sogenannte Kanalbrigade eingesetzt. Ihre Aufgabe war es eigentlich, politische Aktivisten, die in der Wiener Kanalisation ihren Unterschlupf gefunden hatten, festzunehmen. Somit wurde das Strotten schwieriger und führte häufig zu Verhaftungen. Die Strotter von Wien verschwanden mehr und mehr aus der Kanalisation. In der Nachkriegszeit hatte die Kanalbrigade dann die Aufgabe, die Händler des Schwarzmarktes, die sich das Kanalnetz zu Nutze machten, festzunehmen. Der Film „Der dritte Mann“ erinnert noch heute daran. Heute kann man in der „Dritten Mann – Tour“ in die Wiener Unterwelt abtauchen. Auch das private Dritte Mann Museum im 4. Bezirk widmet sich dem Film und erzählt über die Geschichte der Wiener Kanalisation.
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