Gastbeiträge

Der Virus ständiger Ungerechtigkeit

Gastkommentar von Rudolf Scholten

Rudolf Scholten war von 1990 bis 1997 Mitglied der österreichischen Bundesregierung: Als Minister für Unterricht und Kunst und später als Wissenschaftsminister. Davor war Scholten Generalsekretär des Österreichischen Bundestheaterverbandes und kulturpolitischer Berater der Regierung.

„Das ist ungerecht“

„Das ist ungerecht“ flüstert der Bub, dem verboten wurde, mit seinen Freunden in den Park zu gehen.

„Das ist ungerecht“ verzweifelt der Angeklagte, nachdem er verurteilt wurde.

„Das ist ungerecht“ sagt der Bezieher von Mindestsicherung, beim Anblick eines teuren Restaurants, am Weg zu seinen Freunden in sein Lokal.

„Das ist ungerecht“ empfindet der wirtschaftlich Verzweifelte am Weg ins Sozialamt oder der Arbeitslose bei der Abgabe seiner Anträge.

Ungerechtigkeit empfindet der Benachteiligte als Machtlosigkeit und fühlt sich „vom Leben und seinen Umständen“ schlecht behandelt.

Die Bevorzugten stimmen diesen Beschreibungen manchmal rhetorisch zu und schaffen sich ein Geflecht an Erklärungen, warum das Unrecht die traurige, aber unvermeidbare Begleitung von Leistungsgesellschaft und Wettbewerb ist. Den Verlierern attestieren sie gutwillig „Pech“ und böswillig „selbst schuld“.

Angst vor Ungerechtigkeit und Gewalt zählen zu den konstanten Qualen der Menschheit. Flucht und Verzweiflung und Gegengewalt folgen diesem Unrecht. Wenn auch „was wäre, wenn“-Fragen in der Geschichte meistens unsinnig sind, so dürfte es der Faschismus wesentlich schwerer gehabt haben, so viele Menschen in die Geiselhaft zu nehmen, wenn dagegen ein spürbar höheres Wohlstandsniveau den Schutzschild geboten hätte.

Die Gierigen und die Leidtragenden

Die politische Gier findet ihre Erfüllung in kriegerischen Eroberungen und Imperialismus. Das individuelle Parallelstück dazu ist das „nie genug bekommen können“ der wirtschaftlich Erfolgreichen. Irrationale Lust, Einkommen und Vermögen in unvorstellbare Höhen zu treiben, ist die Droge dieser Süchtigen. Die innere Stimme des schlechten Gewissens wird selbstgefällig durch Spenden von weniger als einem Prozent des Einkommens zum Verstummen gebracht.

Beschäftigungstherapie für gutgläubige Reformer ist es, durch kleinteilige politische Überzeugungsarbeit, Einsicht für die drängende Notwendigkeit eine Neuverteilung des wirtschaftlichen Spielraums in unserer Gesellschaft herzustellen.

Krisenmanagement

So wie wir in den letzten Monaten mitverfolgen konnten, ist es viel leichter unter Bedrohung Runterfahren durchzusetzen, als das schrittweise Hochfahren gut zu organisieren. Das erstere folgt dem Prinzip einer ausnahmslosen generellen Maßnahme, während der langsame Übergang in gewohnte Bahnen alle individuellen Blickwinkel zu beachten hat. Maßarbeit muss die pauschale Vorgangsweise ersetzen. Ein brennendes Haus zu löschen, ist ein schneller Entschluss und braucht eine starke Feuerwehr, für den Wiederaufbau ist Fingerspitzengefühl und Erfahrung von Nöten.

Wenn eine Gesellschaft untereinander keine gemeinsame Lösung finden kann, bleibt der Staat als mit besonderen Rechten ausgestattete Instanz zur Lösung genau derartiger Konflikte.

Prioritäten des Staates werden sichtbar

Wir haben 2008 und 2020 im kurzen Abstand erleben können, wie der wirtschaftliche Notfall raschen Konsens über eine nahezu ungebremste Finanzierungsbereitschaft des Staates möglich macht und selbst multilaterale Entschiedenheit das Vorurteil lahmer Unentschlossenheit zwischen den Staaten überwindet.

Erschreckend dabei ist, dass in wenigen Tagen ein Kompromiss über hunderte Milliarden gefunden sein wird, nicht aber über die Aufnahme von wenigen hundert Flüchtlingen, die in griechischen Lagern vor sich hinleben und sterben. Europäische Solidarität scheint sich leichter über Milliarden auszudrücken als über den Austausch von Akutbetten.

Globalisierung, Klimaschutz, Digitalisierung und internationales Zusammenhalten von Ländern zum gegenseitigen Nutzen werden auf den hohen Sockel der Utopie zurückgestellt, die der pragmatische Kleingeist aus großer Ferne bewundert.

Hilfs-Milliarden sind nicht exklusiv für Bankenrettungen reserviert

So wie im heurigen März das entschlossene Handeln Österreichs sicher in vielen Staatskanzleien zitiert wurde, könnten wir auch bei Klimaschutz und Neuverteilung der sozialen Chancen Maßstäbe setzen und uns darauf verlassen, dass anderswo sehr schnell eine Diskussion erwacht: „warum geht das bei uns nicht?“

Zur Bekämpfung der Bankenkrise wurden sehr entschlossen Milliarden eingesetzt und jetzt noch größere Beträge, um die Pandemie-Folgen zu bewältigen. Der Virus ständiger Ungerechtigkeit in der Verteilung von Lebenschancen und wirtschaftlichen Wohlstands hat schon sehr lange gravierende Verwüstungen im sozialen Leben unsrer Gesellschaft angerichtet hat und wütet ungebremst.

Staat muss gerecht gestalten und investieren

„Wir werden alles dazu tun, um die soziale Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft deutlich zu verkleinern“ ist die Maxime politischen Handelns, um den Benachteiligten das Gefühl von Machtlosigkeit gegen Ungerechtigkeit nehmen.

Der Staat muss mutig und entschlossen eingreifen und mit Geld die Bildungschancen der Jugend gerecht gestalten. Zugleich muss der Staat durch eine deutliche Verbesserung und Absicherung der Lebensbedingungen jener sorgen, die nicht zu den Bevorzugten gehören. Das wird viel Geld kosten.

Hoffnung wird Hoffnungslosigkeit ablösen

Wenn wir die unmittelbaren Folgen von Corona überwunden haben werden und die Staatshaushalte wieder ihre Balance gefunden haben, dann ist es höchste Zeit für eine neue Hauruck Aktion. Diesmal für die Bekämpfung der Machtlosigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit von tausenden und Millionen von Menschen, selbst in unserem Land.

Hoffnung wird Hoffnungslosigkeit ablösen und der Staatshaushalt wird das tun, was jeder Haushalt zu tun hat, dem jeweils Schwächeren zu helfen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.

Gegen Ungerechtigkeit gibt es keine Impfung. Gemeinsam werden wir den Virus nicht zum Verschwinden bringen, aber zu beherrschen lernen.

NeueZeit Redaktion

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