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Corona-Statistiker Erich Neuwirth: „Was ich tue, ist an manchen Stellen nicht erwünscht“

Die Corona-Infektionen in Österreich steigen Anfang November auf immer neue Rekordwerte an. Erich Neuwirth weiß das schon seit September. Auf seiner Website und seinem Twitter-Account stellt der Statistik-Professor im Ruhestand Zahlen zur Corona-Pandemie zur Verfügung – täglich aktuell und für alle verständlich. Die Trends, die Neuwirth berechnet, zeigten die aktuelle Infektions-Entwicklung schon vor Wochen. Es gehe nicht um Schuldzuweisungen, aber die Bundesregierung hat die Entwicklung wohl „zu spät erkannt“, sagt Erich Neuwirth im Interview mit der Neuen Zeit.

Die Corona-Infektionen in Österreich steigen scheinbar unkontrolliert an. Die Bundesregierung gibt sich in den letzten Tagen überrascht – die explosionsartige Entwicklung sei „nicht vorhersehbar“ gewesen. Tatsächlich haben Sie diese Entwicklung aber bereits im September gesehen. Wieso ist die Regierung trotzdem überrascht?

Erich Neuwirth: Ich glaube, dass niemand der Regierung die entscheidende Grafik gezeigt hat. Wenn man die Entwicklung der Infektionszahlen auf einer sogenannten logarithmischen Skala darstellt, dann sieht man, dass seit spätestens Mitte Juni ein durchgehender Trend drinnen ist. Der ist zwar überlagert von Schwankungen, aber trotzdem klar erkennbar.

Erich Neuwirth Corona Interview
Von dieser „logarithmischen“ Grafik spricht Erich Neuwirth im Interview: Die Corona-Neuinfektionen steigen rasant an. Dieser Trend ist schon länger erkennbar. // Grafik: Erich Neuwirths COVID-19 Analysen

Das Wesen der Grafik ist: Wenn man sich die Neuinfektionen ansieht, dann werden sie langfristig von Woche zu Woche immer um denselben Prozentsatz mehr. Das ist exponentielles Wachstum. Man erkennt das auf der logarithmischen Skala zum Beispiel daran, dass die Zeit für eine Verdopplumg immer annäherd gleich ist. Und mehrere Verdopplungen hintereinander sind auf der logarithmschen Skala leichter zu erkennen. Momentan wird der Prozentsatz, um den die Infektionen mehr werden, selbst immer mehr. Wir haben derzeit wahrscheinlich sogar stärkeres als exponentielles Wachstum.

Wie konnte es passieren, dass die Bundesregierung diesen Wachstumstrend nicht kennt? Hat sie die falschen Berater?

Das weiß ich nicht. Es geht da auch gar nicht um Schuldzuweisungen. Die Entwicklung ist aber wirklich zu spät erkannt worden. Wenn man die Grafik einmal gesehen hat, kann man nicht mehr sagen: „Das war nicht vorauszusehen“.

Hat die Bundesregierung die Grafik mittlerweile gesehen? Hat Sie jemand kontaktiert?

Der Herr Faßmann (Bildungsminister, Anm.) hat mich ein paar Mal angerufen. Sonst niemand. Sonst gibt’s auch keinen Kontakt. Ich habe ein paar Mal versucht, ins Gesundheitsministerium vorzudringen. Ich habe E-Mails hingeschrieben und dann einen Termin mit einer Abteilungsleiterin bekommen. Den Termin habe ich natürlich wahrgenommen.

Aber Ihr Eindruck ist, dass da nicht wirklich etwas Fruchtbares heraus…

Mein Eindruck ist, dass das, was ich tue, an manchen Stellen nicht besonders erwünscht ist. Um das sehr vorsichtig zu formulieren.

Nicht erwünscht, weil Ihre Statistiken doch sehr dramatische Entwicklungen aufzeigen?

Weil die Kontrolle darüber, was öffentlich gesagt wird, dann nicht mehr nur an einer Stelle liegt. Es geht immer auch um Interpretationshoheit.

Bleiben wir noch beim Corona-Management der Bundesregierung: Sind die neuen Maßnahmen rund um den zweiten Lockdown ausreichend, um die Trends, die Sie skizzieren, zu stoppen?

Ich kann nur sagen, was mein Eindruck ist. Und mein Eindruck ist schon, dass die Dramatik der Situation immer erst sehr spät erkannt worden ist. Wir müssen hoffen, dass es nicht zu spät ist. Wenn wir in den Zustand geraten, dass die Intensivbetten nicht mehr ausreichen, dann war es offensichtlich zu spät. Es ist jetzt auch so, dass sich die Zahl der COVID-Toten von einer Woche bis zur nächsten zwei Mal hintereinander verdoppelt hat. Das ist nicht nur unschön, das ist halt gefährlich.

Können Sie berechnen, ob die angesprochenen Intensivbetten ausreichen werden?

Ich kann nichts prognostizieren. Ich kann nur sagen, da gibt es diese und jene Trends. Und wenn wir nichts tun, dann werden sich diese Trends fortsetzen. Das kann ich als Statistiker sagen. Und wenn sich die Zahl der Verstorbenen zwei Mal hintereinander verdoppelt, dann ist das ein böser Trend.

Erich Neuwirth im Corona Interview
In seinen Statistiken dokumentiert Erich Neuwirth auch COVID-Patienten im Krankenhaus bzw. auf Intensivstationen sowie Todesfälle. Alle drei Werte steigen an. // Grafik: Erich Neuwirths COVID-19 Analysen

Wenn Sie nicht Statistiker, sondern österreichischer Bundeskanzler wären: Was würden Sie den Menschen sagen und welche Maßnahmen würden Sie setzen?

Zum Glück bin ich das nicht. Diese Rolle möchte ich derzeit gar nicht haben. Man kann so viel falsch machen. Aber wer diese Machtposition hat und haben wollte, muss jetzt eben damit umgehen. Das ist Teil des Jobs. Das, was ich tue, ist eher langfristig orientiert. Jetzt sind aber kurzfristige Reaktionen gefragt.

Sie haben kürzlich in der Tageszeitung Der Standard vorgerechnet, dass es bald zu 13.750 Neuinfizierten pro Tag kommen könnte.

Da habe ich gerechnet: Von der vorvergangenen zur vergangenen Woche, wie viel ist es jeden Wochentag mehr geworden? Das habe ich für 14 Tage lang weitergerechnet. Das war ein reines Gedankenexperiment: Wenn ich die Wachstumsraten, die ich berechnet habe, noch einmal zwei weitere Wochen annehme, was kommt da heraus, wenn es so weitergeht wie bisher? Das soll eine Warnungsrechnung sein. Das kann uns passieren, wenn wir nichts tun.

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