Das Waldviertel kämpfte lange Zeit mit abwandernder Bevölkerung, hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Die ÖVP kontrolliert bis heute alle Lebensbereiche und schaut dabei nur auf „ihre“ Leute. Wer „den Schwarzen“ nicht nahesteht, muss sich hinten anstellen. Doch diese Allmacht bröckelt. Und seit heuer wächst die Bevölkerung.
Das Waldviertel gehört zu den schönsten Regionen Österreichs – allerdings auch zu den Sorgenkindern. Denn bis 1990 lag die Region direkt am eisernen Vorhang. Sie war quasi die Endstation der westlichen Welt. Doch seitdem sind über 30 Jahre vergangen. Trotzdem ist auch heute noch der Bezirk mit dem niedrigsten Lohnniveau in Niederösterreich – Krems im Waldviertel. Die Landesregierung hat viele Chancen vergeben. Die Gegend ist bis heute von der Allmacht der ÖVP geprägt, die hauptsächlich auf „ihre“ Leute schaut. Doch ihre Macht bröckelt, denn viele sind unzufrieden.
2023 verzeichnet das Waldviertel ein leichtes Bevölkerungsplus. Auch bei der Arbeitslosigkeit gibt es erfreuliche Signale. Ist das die Trendwende? Und wenn ja: Warum hat es so lange gedauert?
In kaum einer Gegend Österreichs war und ist die Macht der ÖVP so sehr spürbar, wie im Waldviertel. „Die Schwarzen dominieren alle Lebensbereiche und machen Klientelpolitik ohne jeden Genierer“, berichtet eine Frau aus einer Ortschaft im Norden der Region. Und weiter: „Ohne ÖVP-Verbindungen musst du dich hinten anstellen“ Ob wir das zitieren dürfen? „Aber bitte nicht namentlich.“ Diesen Satz bekommt man öfter zu hören, wenn man hier nach der ÖVP fragt.
„Wenn du dich da aus dem Fenster lehnst und dann brauchst du irgendwas von der Gemeinde … das könnte dann schwierig werden“
Warum das? „Wenn du dich da aus dem Fenster lehnst und dann brauchst du irgendwas von der Gemeinde … das könnte dann schwierig werden“, erklärt sie. Auch das hören wir mehr oder weniger offen bei den meisten Gesprächen über die ÖVP und was im Waldviertel schiefläuft.
Was diese „Klientelpolitik ohne jeden Genierer“ in der Praxis bedeutet, erzählt uns eine der wenigen Gesprächspartnerinnen, deren Namen wir nennen dürfen. Johanna Leithner ist sozialdemokratische Gemeinderätin in Horn. Sie setzt sich dafür ein, dass die Stadt die Bachstraße saniert. Denn obwohl ein Teil des Orts Mödring nur über sie erreichbar, ist sie marode. Seit Jahrzehnten hat sich niemand darum gekümmert. Ganz im Gegensatz zum unweit gelegenen Altbachweg. Über ihn erreicht man fast nur ein paar Äcker. Doch die gehören Bauern mit besten Verbindungen zur ÖVP. Es ist wohl kein Zufall, dass dieser Weg frisch asphaltiert ist. Und die Mödringer an der Bachstraße? Die haben den Altbachweg mit ihren Abgaben mitbezahlt, kämpfen sich aber zu ihren eigenen Häusern weiterhin über Schlaglöcher durch.
Leithner hat deshalb eine Unterschriftenliste gestartet. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des betroffenen Ortsteils haben unterschrieben und noch fünfmal mehr zusätzlich. Doch beim Unterschriften sammeln hat Leithner nicht überall geläutet, erzählt sie. Die, die den Bürgermeister vorwarnen hätten können, hat sie ausgelassen. Sicher ist sicher. Wir sind immerhin im Waldviertel. Im Juni hat sie die Unterschriften dann dem Bürgermeister überreicht. Nach den Ferien will sie nachhaken. Wir werden weiter berichten.
Immer wieder erzählen uns Waldviertlerinnen und Waldviertler ähnliche Geschichten. Während die Gemeinden Straßen zu Wohnhäusern oft vernachlässigen, führen frisch asphaltierte Güterwege zu den Äckern und Hallen der gut vernetzten ÖVP-Bauernbundmitglieder.
Die Infrastruktur ist allgemein ein Problem im Waldviertel. Die Bezirkshauptstädte Waidhofen an der Thaya und Zwettl sind zum Beispiel mit dem Zug nicht erreichbar. Einst führte eine Nebenbahn dorthin. Doch die wurde aufgelassen. Ohne Auto kommt man hier nicht weit.
Auch die viel zu wenigen Polizeiwachstuben sind unterbesetzt. Wer etwas abseits wohnt – und das ist im Waldviertel sehr häufig der Fall – muss nach einem Notruf schonmal eine halbe Stunde auf die Funkstreife warten. Ähnlich sieht es bei der medizinischen Versorgung aus. Praktische Ärzte gibt es schon lange nicht mehr in jedem Ort und Fachärzte sind überhaupt Mangelware. Oft reicht es nicht einmal, in eine der Bezirkshauptstädte zu fahren.
Den Krankenhäusern im Viertel vertraut keine und keiner, mit der oder dem wir gesprochen haben. Augenrollen, ein Seufzer oder ein „naja“ waren noch die diplomatischeren Antworten. „Bei was Ernstem schaut man schon, dass man nach Wien kommt“, meint ein Waldviertler, der sonst kein gutes Haar an der Bundeshauptstadt lässt.
Das alles schlägt sich mittlerweile auch in Wahlergebnissen nieder. Spätestens seit der Einfluss der Kirche nachgelassen hat. Bis weit in die zweite Republik hinein machten die Pfarrer im Waldviertel recht unverhohlen klar: Gute Christenmenschen müssen ÖVP wählen.
Lange Zeit hielt das die Wählerinnen und Wähler bei der Stange. Heute reicht es nicht mehr – und die Kirchenvertreter sind zurückhaltender geworden. „Die Leute haben erkannt, dass die ÖVP nur redet“, sagt uns ein Waidhofener. Denn „bei uns gibt es zu wenige Wähler. Im Speckgürtel um Wien, St. Pölten oder Wiener Neustadt ist einfach mehr zu holen.“
Von dieser Unzufriedenheit profitiert vor allem die FPÖ. Im Waldviertel konnte sie einige Hochburgen aufbauen. In Altmelon im Bezirk Zwettl erreichten die Freiheitlichen zuletzt 43,62 Prozent der Wählerstimmen. Auch einer der berüchtigtsten FPÖ-Männer kommt aus dem Waldviertel: Gottfried Waldhäusl begann seine Karriere als Gemeinderat in Pfaffenschlag im Bezirk Waidhofen an der Thaya. Über die freiheitliche Bauernschaft, deren Obmann er wurde, arbeitete er sich in der Partei hoch.
Denn die kleinen Bauern behandelte das ÖVP-Establishment im Waldviertel kaum besser als Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch sie mussten sich hinten anstellen. Seit sie die Strahlkraft der Kirche nicht mehr an die ÖVP binden kann, wandern sie scharenweise zur FPÖ ab.
Der SPÖ hat die wachsende Unzufriedenheit mit der ÖVP überraschend wenig gebracht. Das hat viele Gründe. Bis in die zweite Republik hinein gab es Industrie, dadurch Arbeiterinnen und Arbeiter und rote Bollwerke im Land. Gmünd war nur einer von mehreren wichtigen Industriestandorten im Waldviertel. Doch durch den „Eisernen Vorhang“ wanderte eine Fabrik nach der anderen ab oder machte ganz zu. Damit blieb auch den Arbeiterinnen und Arbeitern kaum eine andere Chance, als zu gehen – meist nach Wien. Das spürte die Sozialdemokratie bei Wahlen.
Bis weit in die 1990er-Jahre „hatten die schwarzen Bürgermeister mit Betriebsansiedlungen gar keine so große Freude“, berichtet uns der Regionalgeschäftsführer der SPÖ im Waldviertel Josef Kromsian. Denn das brächte ja am Ende zusätzliche Arbeiter in die Gegend und „die wählen ja dann die Falschen“.
Andere Gesprächspartnerinnen machen aber auch kein Hehl daraus: Dass die SPÖ in der Landesregierung mit der ÖVP zusammenarbeitet, gefiel ihnen wenig. Obwohl das natürlich dem Proporzsystem in Niederösterreich geschuldet war.
Eines muss man der Landesregierung durchaus lassen: Sie bemüht sich mittlerweile um Betriebsansiedlungen. Mit üppigen Förderungen holt sie immer wieder neue Unternehmen ins Waldviertel. „Doch wenn die Förderungen auslaufen, gehen sie wieder“, berichtet uns eine Frau, die deshalb vor kurzem den Job verloren hat. Sie hat in den letzten Jahrzehnten gleich drei Firmen „überlebt“, die heute abgewandert sind.
Außerdem seien die Subventionen nicht an Mindeststandards geknüpft. Dementsprechend seien die Löhne oft so niedrig und die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass viele wieder aufhören. Bei den Prozessen wegen Lohndumpings hat das Waldviertel die Nase österreichweit vorn. Eine Frau mittleren Alters berichtet uns, dass sie lange im Supermarkt an der Kassa gearbeitet habe. Dann eröffnete ein neuer Betrieb für tierische Produkte in der nächsten Ortschaft. Sie wechselte – doch nur für kurze Zeit. Man erwartete von ihr unbezahlte Überstunden und Doppelschichten. Im Endeffekt verdiente sie trotz Überstunden nicht mehr als zuvor. Sie ging zurück in den Supermarkt.
Was tatsächlich auffällt: Am Parkplatz des üppig subventionierten Betriebs sieht man fast durchwegs tschechische Kennzeichen. „Die zahlen so schlecht, dass Einheimische für dieses Geld nicht dort arbeiten wollen“, erzählt die Frau.
Doch trotz allem tut sich was im Waldviertel. In den letzten Jahren siedeln sich immer mehr moderne Unternehmen an. Lange vorbei sind die Zeiten als „Schuhrebell“ Heini Staudingers Betrieb zu den wenigen mit guten Arbeitsbedingungen zählte. Green Energy wird zum Thema und bietet immer mehr Arbeitsplätze. Und im Herbst 2023 soll das erste Klimaausbildungszentrum in Sigmundsherbeg im Bezirk Horn eröffnen. Es wird arbeitslose Waldviertlerinnen und Waldviertler auf Jobs beim Ausbau erneuerbarer Energien vorbereiten. Ins Leben gerufen hat es allerdings nicht Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, sondern der damalige AMS-NÖ-Chef und heutige SPÖ-Landesparteivorsitzende Sven Hergovich.
„Die Menschen hier haben einen langen Atem. Und ein wenig stur sind wir auch!“
Heuer ist die Bevölkerung im Waldviertel gewachsen. Ob das die Trendwende oder ein statistischer Ausreißer ist, wird sich zeigen. Die Waldviertlerinnen und Waldviertler werden sich jedenfalls nicht unterkriegen lassen. Denn „die Menschen hier haben einen langen Atem. Und ein wenig stur sind wir auch“, meint ein Mann. Dann bittet er uns um Verständnis, dass er jetzt das Gespräch beenden muss. Im Wald warte noch Arbeit auf ihn. Mit der Kettensäge in der einen und einer Seilwinde in der anderen Hand, macht er sich auf den Weg. Im zarten Alter von 71 Jahren.
Zäh und fast schon ein bisschen stur musste man bis vor wenigen Generationen auch sein, um in einer der kältesten Regionen Österreichs zu überleben. Über die sanften Hügel zieht vom frühen Herbst bis weit in den Frühling grimmiger Frost. Doch in Zeiten der Erderwärmung könnte dieses Klima zur Stärke des Waldviertels werden.
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