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Die Kopftuchdebatte in Österreich: Kinderschutz oder Symbolpolitik?

Foto von Ghiffary Ridhwan auf unsplash

Die Diskussionen über das Kopftuch in Österreich und die plötzliche Sorge um muslimische Mädchen und Frauen zeigt, dass diese Debatte häufig symbolpolitisch geführt wird. Konkrete Maßnahmen zur Förderung von Frauen mit Migrationsgeschichte vermisse ich bisweilen. Eine Einordnung.

Steckbrief
Kardelen Melis Yilmaz ist in Istanbul aufgewachsen und lebt seit 12 Jahren in Wien. Sie ist studierte Politikwissenschaftlerin, begeisterte Tänzerin und Tanzlehrerin. Sie studiert im Masterstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Politisch engagiert sie sich derzeit in der Jungen Generation der SPÖ in Hernals und setzt sich dort als Anti-Rassismusbeauftragte gegen Diskriminierung ein. Tanzen ist ihr Kindheitstraum und bedeutet für sie Heimat. Dieses Gefühl möchte sie anderen in ihren Tanzstunden weitergeben.

Starke Äußerungen in der Politik über das Kopftuchverbot

In den letzten Wochen hat Österreich intensiv über Religiosität, Integration und individuelle Freiheiten diskutiert. Kaum eine andere Debatte hat zuletzt so viele Fragen über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politischen Absichten aufgeworfen, wie die über das Kopftuchverbot.

Wen ich in der Debatte besonders interessant fand, war Yannick Shetty, Abgeordneter zum Nationalrat und Klubobmann der NEOS. So sprach er auf seinem Instagram-Account jüngst von einer “Frühsexualisierung” der muslimischen Mädchen mit Kopftuch und davon, dass er sich sehr um sie sorge. Ist diese Schutz- und „Hilfsbereitschaft“ glaubwürdig? Wenn man bedenkt , dass Studien zeigen, dass Frauen mit Migrationsgeschichte in Österreich die am wenigsten geförderte Gruppe sind – am Arbeitsmarkt, am Wohnungsmarkt und im Zugang zu staatlicher Unterstützung, dann wohl eher nicht.

Claudia Plakolm, Ministerin für Europa, Integration und Familie, sagt zur Debatte in einem Interview mit Armin Wolf über die „Ja, es ist Symbolpolitik. Aber es ist ein Symbol dafür, dass alle Mädchen die gleichen Möglichkeiten haben.“ Armin Wolf erinnerte an die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vor fünf Jahren. In dieser wurde betont, dass man sich nicht selektiv auf eine einzelne Religion fokussieren dürfe. Und was sagen Expert:innen?

Kindheit Schützen

Die Entscheidung der österreichischen Regierung, ein Kopftuchverbot gesetzlich zu verankern, ist konfliktträchtig. Selbstverständlich ist es Aufgabe des Staates, Kinder vor jeglichem Zwang zu schützen, auch vor möglichen Übergriffen im familiären Umfeld. Alles, was in der Privatheit passiert, hat politische Dimensionen. Die Integrationsexpertin Emina Saric erklärt in einem Interview mit Der Standard, dass das Kinderkopftuch nach ihrer Einschätzung kein Ausdruck eigenständiger Religiosität sei. Vielmehr werde es in jungen Jahren häufig aufgrund familiärer oder gesellschaftlicher Erwartungen getragen. Saric sieht das Thema daher weniger als Frage der Religionsfreiheit, sondern als eine des Kinderschutzes. Erst mit zunehmendem Alter haben Mädchen die Möglichkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen möchten.

Es stellt sich aber die Frage: Kann ein Verbot wirklich ein Mädchen vor einer Familie schützen, die sie beeinflussen möchte? Dabei sollte man beachten, dass sich viele Kinder zwischen zwei Polen befinden – zwischen Familie und staatlichen Vorgaben.  

Was denken muslimische Frauen darüber?

Foto von Ghiffary Ridhwan auf unsplash

Um diese Widersprüche sichtbar zu machen, habe ich mit zwei Frauen gesprochen. Ümmü-Selime Türe ist Kultur- und Sozialanthropologin mit Expertise in psychosozialer Beratung sowie in Transformative und Healing Justice. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Dokumentations- und Beratungsstelle für Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus, der ‚Dokustelle Österreich‘.

Die zweite Gesprächspartnerin Zeynep A. ist in Österreich geboren und aufgewachsen, hat Lehramt in Deutsch und Italienisch abgeschlossen, ist Doktorandin und trägt Kopftuch.

Beide Frauen erklären, wie stark das Kopftuchverbot in ihr Leben eingreift und wie sehr es das Gefühl von Entfremdung verstärkt. Als Muslimin mit Kopftuch erlebt Zeynep A. im Alltag sowohl bereichernde Begegnungen als auch Diskriminierung. Mitunter wird sie für ihre guten Deutschkenntnisse gelobt. Sie stellt sich die Frage: Werden Mädchen muslimischen Glaubens künftig selbstbewusster auftreten oder sich eher zurückhalten, um nicht aufzufallen? Daraufhin betont sie:

“In der Debatte um ein Kopftuchverbot für Mädchen ist es wichtig, auch die Perspektive der Kinder selbst zu berücksichtigen. Wie fühlen sich Mädchen, wenn ihnen das Tragen eines Kleidungsstücks verboten wird, das Teil ihres Alltags oder ihrer familiären Kultur ist? Welche Wirkung hat es auf sie, wenn ihr Leben in der Schule von den Regeln zu Hause abweicht und sie unterschiedliche Erwartungen erfüllen müssen? Solche Diskrepanzen können Entfremdungsgefühle sowohl gegenüber dem eigenen Zuhause als auch gegenüber der Schule hervorrufen und langfristig Identitätskrisen begünstigen. Die Frage, wie Kinder ihr Selbstbild und ihre Zugehörigkeit in diesen Spannungsfeldern entwickeln, sollte daher zentral in der Diskussion über Verbote und Regelungen stehen.”

Förderung und Chancengleichheit, aber für wen?

Ümmü-Selime sieht in der Kopftuchdebatte einen wichtigen Diskussionsbedarf und sagt:

Wenn es um Frauen mit Kopftuch geht, sprechen wir immer über sie oder für sie, aber nie mit ihnen. Diese Kopftuchdebatten sind stets bevormundend und infantilisierend und werden von der Politik sehr paternalistisch behandelt. Es geschieht nie auf Augenhöhe“, sagte sie und fragte kritisch: „Lässt sich ein so komplexes Problem wirklich durch ein Verbot lösen? Sollte Empowerment nicht durch Förderung und Chancengleichheit kommen? Sollte die Gesellschaft nicht den Raum dafür schaffen, in dem die Frauen sich aus eigenem Antrieb entfalten? Während manche dies unabhängig von Formen und Erwartungen tun?

Anschließend fügt sie hinzu, es sei eine offene Frage, ob ein Verbot im Rahmen einer Symbolpolitik muslimische Mädchen tatsächlich fördere. Oder sie vielmehr dazu zwinge, sich zwischen der Kultur ihrer Familie und der sogenannten „österreichischen Leitkultur“ zu entscheiden. Sie bezeichnet das Kopftuchverbot bewusst als „Symbolpolitik“ und die Debatte darüber als „Scheindebatte“. Zur Untermauerung verweist sie auf den Bericht der „European Union Agency for Fundamental Rights“. Dieser zeige, dass Österreich integrationspolitisch im Vergleich zu anderen EU-Ländern besonders schlecht abschneide. Als Folge daraus nennt sie ein mangelndes Vertrauen der migrantischen Community in staatliche Institutionen und in das Bildungssystem. Sie betont:

Das Vertrauen in staatliche Institutionen kann man nicht durch Verbote regeln, sondern durch Zusammenhalt.“ 

Was uns erwartet…

Foto von Efekan Akyüz auf unsplash

Muslimische Frauen wollen keine Bevormundung, sondern auf Augenhöhe an politischen Entscheidungen mitreden. Kann es unter diesen Umständen ermöglicht werden, dass die Politik einen „Safe Space“ für muslimische Frauen schafft? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Kopftuchverbote nicht immer den gewünschten Effekt haben. In der Türkei galt vor der AKP-Regierung ein Kopftuchverbot in allen staatlichen Einrichtungen. Insbesondere in den Schulen und im öffentlichen Dienst, sogar auch an Universitäten.

In der Folge kam es zu einer politischen Radikalisierung des Islams und Instrumentalisierung des Kopftuches und anderer religiöser Merkmale. Sie wurden von der AKP-Regierung für die Stimmenmaximierung genutzt, um ihre Macht zu festigen. Und jetzt äußern viele Frauen in der Türkei die Befürchtung, dass die politische Entwicklung zu einer Kopftuchpflicht führen könnte.

Ob die Kopftuchdebatte unsere Gesellschaft wirklich näher zusammenbringt oder eher zu Spaltung führt? Es bleibt eine hitzige Debatte.

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