Gestern fiel die afghanische Hauptstadt Kabul in die Hände der radikal-islamischen Taliban. Der gewählte Präsident war bereits zuvor geflohen. Damit folgte er dem Beispiel der afghanischen Armee, die sich innerhalb von Wochen auflöste. Die Eroberung Kabuls setzt den Schlusspunkt unter einen 20-jährigen Krieg, der mit dem Einmarsch von US-Truppen im Jahr 2001 begann. Für die Bevölkerung ist die humanitäre Katastrophe damit jedoch nicht zu Ende.
Taliban überrannten Afghanistan innerhalb weniger Monate
Mitte des Jahres begann die US-Armee mit dem Abzug aus Afghanistan. Damit endete der längste Militäreinsatz der amerikanischen Militärgeschichte. Beobachter gingen davon aus, dass sich die afghanische Regierung nicht ohne US-Hilfe halten werde könne. Damit, dass sie dem Ansturm der Taliban so schnell weichen muss, rechnete jedoch kaum jemand. Innerhalb weniger Wochen fiel eine Provinzhauptstadt nach der anderen in die Hände der radikalen Islamisten. Die mit Milliarden von US-Dollars finanzierten Regierungstruppen ergaben sich meist ohne großen Widerstand, flohen oder liefen über. Lokale Warlords, die oftmals aus ethnischen Minderheiten wie Usbeken oder Tadschiken bestehende Truppen kommandierten, konnten den Taliban ebenfalls wenig entgegensetzen. Die Eroberung von Kabul komplettierte deren Siegeszug.
Mit dem Sieg der Taliban endet auch das fragile demokratische Experiment in Afghanistan, das ohnehin eher schlecht als recht funktionierte. Hauptleidtragende werden Frauen und religiöse Minderheiten sein. Ihre Freiheiten, die sie vor allem in den größeren Städten genießen konnten, dürften sie verlieren. An die Stelle der aktuellen Verfassung wird die Scharia treten. Es ist davon auszugehen, dass die Taliban radikal gegen jeden Widerstand vorgehen. Eine neue Schreckensherrschaft steht bevor. Zur Ruhe dürfte Afghanistan daher noch lange nicht kommen.
Jahrzehntelanger Bürgerkrieg hinterlässt ein zerstörtes Land
Um die aktuellen Entwicklung in Afghanistan zu verstehen, ist es notwendig einen Blick auf die Geschichte des zentralasiatischen Landes zu werfen. Nach der Unabhängigkeit begann zunächst eine friedliche Ära. Die Kultur blühte und in den Großstädten war der Anblick von unverschleierten Frauen keine Seltenheit. Tatsächlich war Afghanistan ein Magnet für Hippies aus aller Welt. Die sowjetische Invasion des Jahres 1979 änderte alles schlagartig. Unter dem Vorwand der kommunistischen Regierung zu helfen, marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein und besetzte das Land. Widerstand bildete sich vor allem in den ländlichen Regionen. Dort etablierten sich bald Hochburgen radikal-islamischer Gruppierungen. Mitten im Kalten Krieg sahen die USA ihre Chance gekommen und begannen mit der massiven finanziellen Unterstützung des bewaffneten Widerstandes. Die Ideologie der Gruppierungen war dabei egal. Unter anderem wurde auch ein gewisser Osama Bin Laden unterstützt. Afghanistan entwickelte sich schnell zu einem Anziehungspunkt für Islamisten aus der ganzen Welt.
Als die Sowjetunion nach jahrelangem Guerilla-Krieg abzog, konnte sich die kommunistische Regierung nicht lange halten. Afghanistan versank im Bürgerkrieg, aus dem die Taliban als Sieger hervorgingen. Sie errichteten ein Terrorregime und verfolgten Frauen sowie religiöse Minderheiten. Lediglich in einem kleinen Teil des Nordostens konnte sich Widerstand halten. 2001 trat der Krieg in eine neue Phase ein. Nachdem sich die Taliban nach den Anschlägen vom 11. September weigerten Osama bin Laden auszuliefern marschierten US-Truppen in Afghanistan ein.
Innerhalb kurzer Zeit fiel das Regime der Taliban in sich zusammen. Bin Laden selbst wurde erst zehn Jahre später in Pakistan getötet. Nach dem schnellen Sieg installierten die USA eine korrupte Regierung mit Hamid Karzai an der Spitze. Bei Wahlen kam es regelmäßig zu Ungereimtheiten. Positiv kann die Verbesserung der Situation für Frauen bewertet werden. Fortschritte blieben jedoch meist auf die Städte beschränkt. Am Land wurden die Taliban immer stärker. Die USA reagierten mit einer Verstärkung der Truppenpräsenz darauf. Letztlich konnten selbst die 100.000 Soldaten die auf dem Höhepunkt in Afghanistan kämpften nichts an der Lage ändern. Sie sicherten lediglich das Überleben der Regierung. Nach dem Abzug der USA brach sie jedoch wie ein Kartenhaus zusammen.
Die Lage in Afghanistan wird sich verschlechtern
Bei der historischen Analyse der afghanischen Geschichte darf man das Leiden der Zivilbevölkerung nicht vergessen. Seit 1979 sind mindestens 2 Millionen Menschen getötet worden. Ganze Generationen kennen nichts anderes als Krieg. Verelendung und Massenflucht sind die Folge. Leider kann man davon ausgehen, dass sich die Lage nach der Machtübernahme der Taliban weiter verschlechtern wird. Obwohl die Zahl der unmittelbaren Kriegstoten wahrscheinlich zurückgeht, dürfte jene der aus politischen und religiösen Gründen verfolgten Menschen mit Sicherheit stark steigen. Während der ersten Herrschaft der Taliban zwischen 1996 und 2001 ereigneten sich laut UN mindestens 15 große Massaker. Frauen wurden entrechtet und aus dem öffentlichen Leben verbannt. Bildung zu erlangen war ihnen verboten.
Gleichzeitig verfolgten die Taliban religiöse Minderheiten, allen voran die schiitischen Hazara. Damit einher ging die Zerstörung von Gebäuden und Symbolen anderer Religionsgemeinschaften. Vor allem die Sprengung der Buddha-Statuen von Bamyan sorgte international für entsetzen. Sie wurden mittlerweile übrigens wieder aufgebaut. Ihr Schicksal ist jetzt allerdings wieder völlig ungewiss. Sicher scheint jedoch, dass auf Afghanistan schwere Zeiten zukommen. Ein Ende des Leidens der Bevölkerung ist nicht in Sicht.