Gesellschaft

Hilfe statt Laufsteg: Ein Modedesigner näht „Schlafsack-Jacken“, um Obdachlose im Winter zu wärmen

Der niederländische Modedesigner Bas Timmer tauscht Luxus-Laufstege gegen Obdachlosen-Hilfe: Er näht jetzt „Schlafsack-Jacken“ – eine Mischung aus Schlafsack, Winterjacke und Tasche. Die geniale Erfindung wärmt Menschen, die im Winter kein festes Dach über dem Kopf haben und auf der Straße leben müssen. „Jeder Mensch verdient Wärme“, sagt der Designer.

Eigentlich sollte der Modedesigner Bas Timmer gerade in Paris oder New York sein, um seine neuesten Kreationen auf den größten Laufstegen der Welt vorzustellen. Davon hat der niederländische Modeschöpfer zumindest immer geträumt. Gekommen ist es anders. Nach einem Schicksalsschlag tauschte er schicke Designs gegen funktionale Winterkleidung und Luxus-Laufstege gegen die Obdachlosen-Hilfe: Heute schneidert Bas Timmer geniale „Schlafsack-Jacken“ – sie sind Winterjacke, Schlafsack und Tasche in einem – um obdachlose Menschen im Winter zu wärmen.

Aus einem Probeentwurf wurden 12.500 Schlafsack-Jacken

Ein schrecklicher Todesfall brachte die Wende für Bas Timmers Modekreationen. Der Vater zweier Freunde erfror auf der Straße – er war obdachlos, die Notschlafstelle hatte keinen freien Schlafplatz mehr. Das brachte den Modedesigner zum Umdenken, wie er dem deutschen Fernsehsender ARD erzählt: „Es ist erschreckend, dass wir eine gigantische Textilindustrie haben und jeden Tag Millionen von Kleidungsstücken in der Verbrennungsanlage verschwinden, wir aber trotzdem nicht alle Menschen warm halten können.“

Als Reaktion entwarf der Niederländer eine „Schlafsack-Jacke“. Ein Kleidungsstück, das Schlafsack, Winterjacke und Tasche gleichzeitig ist. Die geniale Erfindung ist wasserabweisend und besitzt eine integrierte Kapuze sowie einen Schal. Die Schlafsack-Jacke hält warm und ist einfach zu transportieren. Kurz: Es ist das ideale Kleidungsstück für Menschen, die im Winter kein festes Dach über dem Kopf haben und auf der Straße leben müssen.

Aus einem einzigen Probeentwurf wurden mittlerweile 12.500 Stück Schlafsack-Jacken, die bereits alle an Bedürftige verschenkt wurden. „Jetzt stecke ich all meine Kreativität hier rein. Das gibt mir mehr, als schöne Klamotten zu entwerfen“, sagt der Modedesigner.

Schlafsack-Jacken für Obdachlose und geflüchtete Menschen

Weltweit leben rund 100 Millionen Menschen in Obdachlosigkeit. In Europa haben rund 4 Millionen Menschen keinen festen Wohnsitz – währenddessen stehen aber 11 Millionen Wohnungen leer. Die Corona-Krise verschärft die Obdachlosigkeit zusätzlich. Auch in Flüchtlingslagern wie Moria oder Kara Tepe leben tausende Menschen ohne Obdach. Im Lager Kara Tepe müssen die Geflüchteten in durchnässten Zelten schlafen, Babys und Kinder werden in den Nächten von Ratten gebissen. Und die kältesten und daher schwierigsten Wochen stehen den Menschen im Flüchtlingslager erst bevor, warnen Aktivisten.

Für all diese Menschen ohne Obdach schneidert der Modedesigner Bas Timmer seine Schlafsack-Jacken. Sein Team verteilt die Kleidungsstücke unter den mehr als 60.000 Obdachlosen in den Niederlanden. Durch eine Kooperation mit dem UNO-Kinderhilfswerk UNICEF erreichten die Jacken-Schlafsäcke auch Kinder in Südafrika, Amerika und dem Flüchtlingslager Moria.

Auch Kinder im Flüchtlingslager Kara Tepe bekommen die Schlafsack-Jacken – immerhin etwas. // Bild: Screenshot/ARD Weltspiegel

Ehemalige Flüchtlinge helfen jetzt anderen Geflüchteten

Genäht werden die einzigartigen Kleidungsstücke in einer ehemaligen Motorradfabrik in der holländischen Stadt Enschede. Dort arbeiten Menschen, die selbst nur zu gut wissen, wie es ist, auf der Straße zu schlafen. Viele der Näherinnen und Näher sind Flüchtlinge aus Syrien, die jetzt in den Niederlanden leben. „Es ist schön, Menschen zu helfen“, sagt einer von ihnen zum Radiosender Ö1.

Für eine Schlafsack-Jacke sind etwa fünf Stunden Näharbeit notwendig. Die Materialien dafür sind zum Großteils Spenden: Eine Sportartikel-Firma stellt Second Hand Kleidung zur Verfügung, viele Menschen spenden alte Schlafsäcke, auch die Außenhaut von alten Zeltplanen wird wiederverwertet. Modedesigner Bas Timmer wurde für seine Erfindung vom Time-Magazine zum „Young Leader of the Year“ gekürt. Er selbst bleibt bescheiden:

„Wir leben doch in einer Welt mit so viel Geld. Dass gleichzeitig immer noch Menschen auf der Straße erfrieren, finde ich erschreckend. Jeder Mensch verdient Wärme, Schutz und Würde.“

Housing First: Zuerst die Wohnung, dann alles andere

Auch in Österreich gibt es innovative Projekte, um die Wohnungslosigkeit zu reduzieren und obdachlose Menschen in den kalten Wintermonaten zu unterstützen. Eines davon ist das sogenannte „Housing First“ Programm. Das Konzept ist einfach: Obdachlose Menschen bekommen hier zuallererst eine Wohnung, sie erhalten ohne Vorbedingungen einen Platz zum Schlafen und Leben. Mit einem Dach über dem Kopf ist es einfacher, Arbeit zu finden oder psychische Erkrankungen zu bewältigen, so die Idee.

Housing First kehrt damit herkömmliche Obdachlosenhilfe ins Gegenteil um. Bisher wurde von wohnungslosen Menschen erwartet, zuerst einen Job zu finden oder psychische Leiden abzulegen, bevor sie bei der Wohnungssuche unterstützt werden. In Wien setzt die Hilfsorganisation neunerhaus das Konzept um. In der Pilotphase zwischen 2012 und 2015 konnten 98 Prozent der insgesamt 131 betreuten Menschen in stabile Wohnverhältnisse gebracht werden.

Wieso in Graz Winterjacken auf Bäumen blühen

Eine originelle Idee macht derzeit in der Steiermark die Runde. Manche Bäume scheinen in Graz auch im Winter zu blühen, als Früchte tragen sie Winterjacken. Zugegeben: Dieses winterliche Aufblühen wäre ohne menschliche Hilfe nicht möglich. Die Junge Generation in der SPÖ Steiermark bindet wärmende Winterjacken an Bäume, gemeinsam mit einer aufmunternden Notiz – Bedürftige wie etwa Obdachlose oder Menschen, die sich gerade keinen teuren Anorak leisten können, können die Winterkleidung kostenlos „pflücken“. „Wir wollen damit einfach nur Gutes tun“, sagt Mustafa Durmus, Landesvorsitzender der jungen Sozialdemokraten. Vor allem wegen der Corona-Krise seien viele Steirerinnen und Steirer von finanziellen Notlagen betroffen. Ihnen wollen die jungen Sozialdemokraten mit gespendeten Winterjacken helfen. Durmus: „Alle sind eingeladen, warme Jacken gegen die soziale Kälte zu spenden.“

Philipp Stadler

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