Gesellschaft

Fenninger: Woran man bei der Bekämpfung von Kinderarmut gescheitert ist 

Wie kann es sein, dass sich in einem der reichsten Länder der EU, die Zahl jener Kinder, die von absoluter Armut betroffen sind in nur einem Jahr verdoppelt hat, wo unsere Regierung doch eigentlich die Armut halbieren wollte? Und wer ist dafür verantwortlich, wenn die Hälfte aller Alleinerziehenden in unserem Land, also vor allem Frauen, von Armut oder materieller Ausgrenzung bedroht sind? Diese Fragen müssen wir uns stellen, meint Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger in seinem Gastkommentar.

Einmal im Jahr veröffentlicht die Statistik Austria Daten zu Einkommen, Armut und Lebensbedingungen in Österreich, die sogenannten EU SILC. Sie sind ein guter Gradmesser für die soziale Entwicklung im Land. Und um diese steht es leider nicht zum Besten. Die Zahl der Kinder in Österreich, die in absoluter Armut leben müssen, oder anders gesagt von erheblicher materieller und sozialer Benachteiligung betroffen sind, hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. 36.000 Kinder und Jugendliche waren es noch im Jahr 2022, 88.000 Kinder sind es 2023 – die Statistik hinkt in diesem Punkt leider immer hinterher. 

Absolute Armut: Von 36.000 auf 88.000 Kinder in nur einem Jahr

Diese „erhebliche“ Benachteiligung bedeutet für Kinder, sich wichtige Dinge des täglichen Lebens nicht leisten zu können, wie etwa die Wohnung warm zu halten, abgenutzte Kleidung zu ersetzen, mindestens zwei Paar Schuhe zu besitzen, oder Freizeitaktivitäten auszuüben. Einen Katalog von 13 Merkmalen definiert die EU hier. Wer sich sieben davon nicht leisten kann, fällt unter die Definition „erheblich materiell und sozial depriviert“. 

Österreich: Jede 10. Familie hatte 2023 Sorge, dass die Kinder nicht ausreichend zu essen haben

Wie prekär die Lebensbedingungen mittlerweile für viele Kinder sind, zeigen die negativen Entwicklungen der EU SILC-Zahlen. Bei absoluten Grundbedürfnissen, wie der Ernährung sehen sie so aus: 84.000 Kinder leben in Haushalten, die es sich nicht leisten können, jeden 2. Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen. Eine neue Studie der Gesundheit Austria bestätigt Ernährungsarmut in Österreich ebenfalls: Mehr als jede 10. Familie hatte im letzten Jahr Sorge, dass ihre Kinder nicht ausreichend zu essen haben.

Diese Unsicherheit und die Einschränkungen bei der Qualität der Lebensmittel belasten Eltern und Kinder schwer, wie wir aus der Sozialen Arbeit mit armutsbetroffenen Familien bei der Volkshilfe wissen. Besonders Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende haben mit den gestiegenen Preisen zu kämpfen. Knapp die Hälfte der Ein-Eltern-Haushalte waren 2023 von Armut oder materieller Ausgrenzung bedroht. Das Scheitern des Lebensmittelgipfels der Regierung vor einem Jahr zeigt hier seine bitteren Folgen. Umso wichtiger wären Eingriffe in den Markt, um die Teuerung an ihren Wurzeln zu bekämpfen. 

Volkshilfe-Chef: Wir alle tragen Verantwortung Kinderarmut abzuschaffen 

Wer trägt also Schuld an dem Dilemma? Wir alle tragen zumindest Verantwortung. Wir, das sind die Politiker:innen, die es in dieser Legislaturperiode versäumt haben, ein armutsfestes soziales Netz umzusetzen. Die es versäumt haben, eine Reform der Mindestsicherung und die Erhöhung des Arbeitslosengeldes umzusetzen. Wir, das sind auch die Superreichen, die nicht für Vermögenssteuern einstehen, die einen Sozialstaat der seinen Namen verdient hat, locker finanzieren könnten.

Wir, das sind auch die Wähler*innen, die im Herbst dafür sorgen können, dass jene Kräfte eine Chance bekommen, die gegen Armut antreten – auch für all jene, die nicht wählen dürfen in unserem Land. Und wir sind auch die Zivilgesellschaft, die laut sein muss, wenn wir eine bessere Zukunft für alle Kinder wollen. 

Kinderarmut kostet Gesellschaft 17,2 Milliarden Euro – Volkshilfe will Kindergrundsicherung jetzt!

Was bleibt noch zu sagen? Es gilt an vielen Schrauben zu drehen in Österreich. Doch zur Einführung einer Kindergrundsicherung gibt es keine Alternative. Wenn wir nicht länger dabei zusehen wollen, wie Familien immer weniger am Teller haben. Wen das soziale Argument in diesem Fall nicht überzeugt, bei dem sollte zumindest das wirtschaftliche Argument Rechnung tragen: Kinderarmut kostet uns als Gesellschaft 17,2 Milliarden Euro. Und das jedes Jahr. Ihre Bekämpfung käme uns deutlich günstiger. 

Erich Fenninger

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