Stichwort - Kolumne von Paul Stich

2-Klassen-Demokratie Österreich: 6 von 10 ArbeiterInnen in Wien dürfen nicht wählen

Österreich wählt am Sonntag einen neuen Bundespräsidenten. Doch ein großer Teil der Bevölkerung darf nicht mitbestimmen, weil ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft fehlt. Das ist nicht nur ein demokratiepolitisches Problem, sondern vor allem eine Rückkehr des Zensuswahlrechts, in der die Stimmen von ArbeiterInnen immer weniger wert werden. 


Stichwort
Die Kolumne von Paul Stich,
Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Österreich.

“Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.” So schreibt es Artikel 1 der Österreichischen Verfassung nieder. Das Problem daran? Dieser Satz entspricht immer weniger der Wahrheit. Rund 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind nicht wahlberechtigt, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und somit von demokratischer Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen sind.

Besonders hoch ist der Anteil in Ballungszentren, etwa in der Bundeshauptstadt Wien. Hier liegt der Anteil der nicht-wahlberechtigten Menschen circa bei einem Drittel.

Österreichs Demokratieproblem ist hausgemacht

Österreich hat eines der restriktivsten Staatsbürgerschaftsrechte in ganz Europa. Konkret kann die Staatsbürgerschaft, im Gegensatz zur geltenden Rechtslage in vielen anderen Ländern Europas, nur dann automatisch verliehen werden, wenn bereits die Eltern eines Kindes die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Folge? Jedes fünfte Kind, das heute in Österreich zur Welt kommt, bekommt keinen österreichischen Pass. Das führt zur absurden Situation, dass tausende Menschen, die ihr Leben lang nirgendwo anders gelebt haben als in Österreich, nicht mitbestimmen können.

An dieser Stelle wird von konservativer Seite gerne eingeworfen: Alle Menschen könnten ganz einfach die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen und das Problem wäre gelöst. Doch diese Behauptung hält den Fakten nicht stand. Denn in der Praxis ist das neben horrenden Gebühren mit weiteren hohen Hürden verbunden. Eine davon ist das nachweisbare Einkommen, das sich aus einem komplizierten Schlüssel errechnet, mit dem finanzielle Eigenständigkeit nachgewiesen werden soll. Um das in Relation zu setzen: 60% der Arbeiterinnen mit österreichischem Pass würden diese Einkommenshürde nicht erfüllen – und keine Staatsbürgerschaft bekommen.

Das zeigt deutlich, dass das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht nicht da ist, um Integration und Gleichstellung zu fördern oder zu ermöglichen. Ganz im Gegenteil, es ist eine bewusste politische Entscheidung zum langfristigen Ausschluss einer bestimmten Gruppe an Menschen aus dem demokratischen Entscheidungsprozess.

Österreichs Demokratieproblem ist eine Klassenfrage

Noch deutlicher offenbart sich das Problem, wenn man die politische Konsequenz daraus betrachtet. Denn der Anteil an nicht-wahlberechtigten Menschen verteilt sich nicht gleichmäßig über alle Bevölkerungsgruppen. Es sind im großen Stil ArbeiterInnen, die ihrer Mitbestimmung beraubt werden. In großem Maße also diejenigen, die unser Land während der Corona-Krise am Laufen gehalten haben und dafür statt höheren Löhnen (die ihnen den Zugang zur Staatsbürgerschaft wohl teilweise ermöglichen würden) nur Applaus und verbalen Zuspruch bekommen haben. So dürfen etwa 60 Prozent (!) der ArbeiterInnen in der Bundeshauptstadt Wien nicht wählen.

Die aktuelle Situation ist daher nicht nur ein demokratiepolitisches Problem, sondern vor allem auch die Rückkehr des Zensuswahlrechts, das den Einfluss von ArbeiterInnen mindert. Die Auswirkungen davon sind fatal. Durch die immer kleiner werdende Anzahl an wahlberechtigten ArbeiterInnen wird auch ihr politisches Gewicht weiter geschmälert, da sie für Parteien eine immer kleiner werdende Zielgruppe darstellen.

Besonders für Arbeiterbewegungen ist das ein strategisches Problem, da die Menschen, für die man Politik macht, nicht mehr an der Wahlurne abstimmen dürfen.

Das Demokratieproblem Österreichs spiegelt demzufolge auch eine Klassenfrage wider und zeigt eine politische Kontinuität. Denn seit jeher versuchen bürgerliche Parteien den Einfluss und die politischen Möglichkeiten der ArbeiterInnen so gering wie möglich zu halten.

Österreichs Demokratieproblem kann behoben werden

Es ist höchste Zeit, das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht aus dem Mittelalter in die Gegenwart zu holen. Andere Länder wie die USA oder Deutschland zeigen seit langem vor, wie ein modernes Recht aussehen kann. Neben Anpassungen der Einkommensgrenzen und vieler anderer Faktoren wäre es notwendig, das Anrecht auf eine Staatsbürgerschaft an den Geburtsort zu binden. Oder anders gesagt: Wer in Österreich geboren wird, ist ÖsterreicherIn!

Demokratie bedeutet die Mitbestimmung aller. Die Möglichkeit, wählen zu dürfen, darf nicht länger von einer Geburten-Lotterie abhängen, die dazu führt, dass arbeitende Menschen in Österreich politisch unterrepräsentiert sind. Denn die Grenze dieser Welt verläuft nicht zwischen In- und Ausländern. Sie verläuft zwischen Oben und Unten.

Paul Stich

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