Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium gehen und später studieren. Doch damals sagte man mir: „Das ist für Mädchen nicht notwendig, du heiratest ja sowieso und bekommst Kinder“. Ich machte eine Lehre, habe gearbeitet, geheiratet und drei Kinder großgezogen. Jetzt habe ich mir im zweiten Bildungsweg den Traum vom Studium erfüllt. Vor Kurzem habe ich meinen Masterabschluss gemacht. Mit 61 Jahren!
Als Frau ohne akademisches Vorbild, aber mit einem unerschütterlichen Bildungswillen, weiß ich, wie hart der Weg zur zweiten Chance sein kann. In meiner heutigen Kolumne schreibe ich über meinen Masterabschluss, nicht als Titel, sondern als Zeichen für Gerechtigkeit. Es geht um Frauen, soziale Gerechtigkeit und eine Gesellschaft, die dafür einstehen soll, Chancengleichheit zu fördern.
Der Master ist für mich mehr als ein Titel. Er ist ein Symbol für ein Leben voller Umwege, Hürden und Neuanfänge. Ich bin drangeblieben, weil ich es wollte. Weil es mir wichtig war. Und weil es Menschen an meiner Seite gab, die an mich geglaubt und mich unterstützt haben.
Mein Weg dorthin war von Herausforderungen geprägt. Ich denke zurück an die Abendschule und meinen Handelsschulabschluss, den ich nach meiner Lehre gemacht habe. Ich denke an die Abendmatura, die ich abgebrochen habe, weil ich kein unterstützendes Umfeld hatte. An die Studienberechtigungsprüfung, die ich abbrechen musste, weil das Leben dazwischenkam. Letztendlich ist es mir gelungen, im zweiten Bildungsweg zu studieren, weil es mir ein inneres Anliegen war. Und weil ich herausfinden wollte, was ich kann, wenn mir niemand mehr sagt, was ich nicht kann.
Bildung ist kein Luxus, sie ist ein Menschenrecht
Doch nicht alle haben den gleichen Zugang zu Bildung. Für manche ist sie eine Selbstverständlichkeit, für andere ein Kampf.
Wer kein stabiles soziales oder ökonomisches Umfeld hat, wer früh Verantwortung übernehmen muss, wer aus einer Familie ohne akademische Vorbilder kommt, muss oft doppelt so viel leisten, um überhaupt dabei sein zu dürfen.
Bildung ist dann kein geradliniger Weg, sondern ein oft unterbrochener. Und jeder Schritt dafür kostet Kraft, Zeit und oft auch Geld. Ein Stipendium kann wertvolle Unterstützung bieten. Ein zweiter Bildungsweg kann neue Chancen eröffnen.
Chancengleichheit? Nicht für alle.
Ich spreche nicht nur aus eigener Erfahrung. Ich sehe es in vielen Lebensläufen um mich herum. Menschen, die viel beitragen könnten, scheitern nicht an mangelnder Begabung, sondern an fehlenden Möglichkeiten. Besonders Frauen sind davon betroffen, durch traditionelle Rollenzuschreibungen, Care-Arbeit, prekäre Beschäftigung oder schlicht den Mangel an Ermutigung.
Gerade deshalb wiegt es schwer, wenn im politischen Diskurs wieder einmal darüber verhandelt wird, wo gekürzt werden kann. Ausgerechnet im Sozial- und Familienbereich soll gespart werden.
Diese Kürzungen treffen jene, die ohnehin mit strukturellen Nachteilen kämpfen. Und sie senden ein klares Signal: Dass Chancengleichheit kein priorisiertes Ziel ist.
Gerechtigkeit beginnt nicht erst mit dem Studienabschluss.
Sie beginnt viel früher, mit diesen Fragen: Wer darf sich Zeit nehmen zu lernen? Wer hat die Mittel? Wer bekommt Unterstützung? Viele brechen ab, bevor sie überhaupt beginnen können. Deshalb bin ich heute so klar in meiner Haltung:
„Es braucht mehr Förderung für Bildung und für ungerade Bildungswege, nicht weniger.“
Es braucht Angebote, die flexible Lebensverläufe mitdenken. Mehr Abendformate, Zugang ohne Matura, gezielte Unterstützung für Bildungsaufsteiger:innen und Wiedereinsteiger:innen. Es braucht Mut zur sozialen Gerechtigkeit, im Sozial- und Familienbereich und in der Bildungspolitik.
Bildung als Schlüssel zur Emanzipation.
Bildung hat mir nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch geholfen, die Welt besser zu verstehen und in Frage zu stellen. Besonders als Frau habe ich durch Bildung gelernt, meine eigenen Stärken zu erkennen und mich nicht von gesellschaftlichen Erwartungen bremsen zu lassen. Sie hat mich selbstbewusster gemacht und mir ein größeres Bewusstsein für die Herausforderungen und Chancen des Lebens gegeben.
Natürlich wird es Stimmen geben, die sagen: „Nicht jede/jeder muss oder will studieren.“ Das ist richtig, aber alle sollten die Möglichkeit haben, es zu können.
Es geht um die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, neue Perspektiven zu gewinnen und das eigene Potenzial zu entfalten. Jeder sollte die Chance haben, zu lernen, unabhängig von sozialen oder ökonomischen Hürden.
Bildung ist ein Schlüssel zur Emanzipation, für Frauen und für alle, die von gesellschaftlichen Strukturen benachteiligt sind. Diese Möglichkeit sollte nicht nur wenigen vorbehalten sein.
Was ich jungen Frauen mitgeben möchte:
Traut euch. Informiert euch, welche Wege für euch offenstehen. Hört nicht auf das, was man euch über euer Geschlecht oder über euch selbst erzählt. Achtet auf euer Umfeld, sucht euch Menschen, die euch fördern, nicht bremsen. Und vergesst nie: Ihr müsst nicht perfekt sein. Ihr müsst nur anfangen.
Ich wollte keinen Titel. Ich wollte Gerechtigkeit. Heute habe ich beides und das Wissen, dass es sich gelohnt hat, immer dranzubleiben.
Heute, mit 60+ und einem abgeschlossenen Masterstudium bin ich Podcasterin, Journalistin und schreibe nun diese Kolumne. Mein Anliegen ist es, mich für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft einzusetzen und über Themen zu berichten, die uns betreffen und bewegen, unabhängig vom Alter.
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