Der Wandel der linken Parteien
Sozialdemokratische und generell linke Parteien haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte von Vertreterinnen der „kleinen Leute“ zu Vertreterinnen der intellektuellen Bildungselite gewandelt. Diese interessante Feststellung trifft Thomas Piketty anhand von umfangreichen Analysen von Nachwahlerhebungen und Statistiken. Der Wandel von Arbeiterparteien zu Akademikerparteien ist bei praktisch allen linken Parteien in und auch außerhalb Europas zu beobachten. Piketty spricht in diesem Zusammenhang von der brahmanischen Linken, eine Anspielung auf die oberste und spirituelle Klasse im indischen Kastensystem. Den Wandel der Wählerstruktur zeigt Piketty für praktisch alle analysierten Länder, von den USA (Demokraten), über Großbritannien (Labour Party) und Frankreich (Sozialisten) bis nach Deutschland (SPD, Grüne) und einige osteuropäische Länder, wo es mittlerweile kaum noch relevante sozialdemokratische Parteien gibt (z.B. Polen). Österreich wird in „Kapital und Ideologie“ nicht näher analysiert, insofern sollen in diesem Artikel die wichtigsten Schlussfolgerungen auf Österreich umgelegt werden.
Während die sozialdemokratischen Parteien (Piketty legt hier eine sehr weit gefasste Definition zu Grunde) früher die höchsten Stimmenanteile bei Arbeitern und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen hatten, sind sie heutzutage Parteien intellektueller Eliten, wie Piketty mit Hilfe seiner umfangreichen Zeitreihen zeigt. Spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach der konservativen Revolution der 1980er Jahre haben sich die sozialdemokratischen Parteien von ihren wirtschaftlichen Ursprüngen losgesagt, neoliberale Politik mitgetragen, die Liberalisierung von Kapitalströmen unterstützt, Privatisierungen vorangetrieben und die Frage einer gerechten Verteilung von Eigentum meist komplett aufgegeben. Für Piketty ist das der entscheidende Grund, weshalb sich große Teile der ehemals treuen Wählerschaft sukzessive von der Sozialdemokratie ab- und häufig sozialnativistischen Bewegungen zugewandt haben.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht die kaufmännische Rechte, welche basierend auf Pikettys Analysen vorwiegend die Interessen der Unternehmens- und Vermögenselite vertritt. Mittlerweile gibt es Länder, in denen die brahmanische Linke gemeinsam mit der kaufmännischen Rechten im Rahmen einer Multi-Eliten-Bewegung regiert. Insbesondere in Frankreich unter Präsident Macron, der eine gemeinsame Bewegung aus intellektueller und vermögender Elite gegründet hat. Auf all jene, die nicht zu den Profiteuren seiner Politik zählen, wird verächtlich herabgeblickt. Dies zeigte sich gut anhand der Gelbwestenproteste ab Ende 2018. Die Regierung hatte eine starke Erhöhung der CO2-Steuer angekündigt und nur ein kleiner Teil (weniger als 20%) der Einnahmen sollte in den ökologischen Umbau und in Kompensationsmaßnahmen fließen. Mit dem Großteil sollten andere Projekte finanziert werden, vor allem erhebliche Steuersenkungen für die höchsten Einkommen und Vermögen, insbesondere aber die Abschaffung der Vermögensteuer.
Der rechte Kaufmann und sein linker Brahmane
Auch in Österreich kann man eine Multi-Eliten-Regierung, wie Piketty es für Frankreich skizziert, vorfinden. Zunächst ist die Bildungselite der brahmanischen Linken vertreten, die 2019 von nur 1% der Arbeiterinnen und Arbeiter, von 3% all jener mit Lehrabschluss, jedoch von 37% aller Akademikerinnen und Akademiker gewählt wurde. Das wäre klarer Platz 1, wenn nur Menschen mit Universitätsabschluss wählen dürften.
Auf der anderen Seite findet sich die kaufmännische Rechte, die Politik für die vermögende Elite der Großkonzerne und milliardenschweren Großspender in Form von massiven Steuererleichterungen und der stetigen Privatisierung des Sozialstaates betreibt. Das Regierungsprogramm trägt ganz klar die Handschrift einer solchen Multi-Eliten-Regierung: keinerlei Vermögen- oder Erbschaftssteuern, eine deutliche Reduzierung der ohnehin schon niedrigen Konzern- und Kapitalertragssteuer, das Auslaufen des Spitzensteuersatzes auf hohe Einkommen und die Fokussierung auf private Altersvorsorge sowie privates Immobilieneigentum, was implizit einem radikalen Abbau des Sozialstaates gleichkommt.
Die Folgen der Multi-Eliten-Regierung zeigen sich in der Corona-Krise
Die Corona-Krise zeigt die klassische Klientelpolitik einer Multi-Eliten-Regierung. Die Kinder der Bildungselite wurden daheim gefördert und konnten auf Lern-Apps und Tablets zurückgreifen, während nach ersten Erhebungen rund 20% der Schülerinnen und Schüler für Lehrkräfte zeitweise gar nicht erreichbar waren. Viele Familien verfügen gar nicht über das notwendige Equipment. Für den Nachwuchs der brahmanischen Linken ist das weniger problematisch. Immerhin werden Kinder von Akademikerinnen und Akademikern dies selbst auch zu rund 50%, bei Kindern von Eltern mit Pflichtschulabschluss sind es jedoch nur unter 10%.
Gleichzeitig betreibt die kaufmännische Rechte, die von den Großspendern erwünschte Industriepolitik und große Unternehmen erhalten großzügige Staatshilfen. Diejenigen, die gerne „Mehr privat als Staat!“ fordern, sind in Krisen häufig die ersten, die gerne den Staat und seine Steuergelder in Anspruch nehmen. So werden Gewinne aus guten Zeiten privatisiert und Verluste aus schlechten Zeiten sozialisiert. Die Möglichkeit, zunächst die Gewinne und Dividenden aus den guten Zeiten heranzuziehen, bevor Steuergeld in Anspruch genommen wird, kommt der kaufmännischen Rechten nicht in den Sinn.
Oft wird argumentiert, dass sonst Arbeitsplätze bedroht wären. Das stimmt. Jedoch ist nicht nachvollziehbar weshalb Arbeitslose ihr Vermögen nahezu komplett aufbrauchen müssen bevor sie Mindestsicherung als Hilfe vom Staat erhalten, während Milliardärinnen und Milliardäre ihr Privatvermögen nicht angreifen müssen oder gar weiterhin Dividenden erhalten, obwohl ihre Unternehmen Staatshilfen bekommen. Am unteren Ende der Verteilung muss man sein Privatvermögen aufbrauchen bevor man staatliche Unterstützung erhält, am oberen Ende bekommt man staatliche Unterstützung, damit man sein Privatvermögen nicht aufbrauchen muss.
Die „einfachen“ Leute bleiben übrig
So betreiben die linken Brahmanen eine Wohlfühlpolitik für die Bildungselite, die sich schon längst keine Gedanken mehr um ökonomische Fragestellungen machen muss. Gleichzeitig setzt die kaufmännische Rechte eine Industriepolitik um, die sich die milliardenschweren Großspender explizit erwarten. Übrig bleiben all jene, die nicht Teil einer Elite sind und ihre Kinder, da gute Bildung ebenso vererbt wird wie Vermögen.
Es ist noch schwer abzuschätzen, welche Dynamiken dadurch in Gang gesetzt werden könnten. Einerseits zeichnet sich beispielsweise in den USA ein Weg ab, in dem sich die Eliten der verschiedenen Sphären in der Demokratischen Partei vereinen. Diese ist mittlerweile nicht mehr nur die Partei der Bildungselite. 2016 erzielten die Demokraten erstmals in ihrer Geschichte unter den einkommensstärksten 10% der Wählerinnen und Wähler ein besseres Ergebnis als die Republikaner. Dieses Zusammenrücken oder sogar Verschmelzen der Eliten in einer Bewegung (z.B. Frankreich), Partei (z.B. USA) oder Regierung (z.B. Österreich) könnte eine mögliche Entwicklung sein.
Umgekehrt zeigt sich aber (vor allem auch für Österreich), dass Vermögensungleichheit hauptsächlich durch Erbschaften zu erklären ist, nicht durch eigene Leistung in Form von Bildung oder Arbeitseinkommen. Deshalb scheint auch der umgekehrte Weg denkbar. Die brahmanische Linke könnte sich vom vorwiegend gesellschaftspolitischen Fokus abwenden und sich wieder mehr mit ökonomischen Fragestellungen wie Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit beschäftigen, wenn der Wert von Bildung und Arbeit im Vergleich zum Glück reicher Eltern immer unbedeutender wird und gleichzeitig auch der elitäre Wert von Universitätsabschlüssen (auf Grund der rasant steigenden Zahl von Akademikerinnen und Akademikern) stetig sinkt.
Thomas Piketty schlussfolgert in „Kapital und Ideologie“, dass diese heutzutage häufig zu erkennenden Multi-Eliten-Systeme an die mittelalterliche Feudalgesellschaft erinnern. Da gab es einerseits die intellektuelle, moralische Elite in Form des Klerus und andererseits die vermögende, weltliche Elite in Form des Adels. Zusammen haben sie über Jahrhunderte die Gesellschaft dominiert. Damals musste sich der Großteil der Bevölkerung damit abfinden, schließlich war das System von Gott gewollt und damit nicht zu hinterfragen.