Russlands Präsident Wladimir Putin verkündete eine Teilmobilmachung der russischen Armee für den Krieg in der Ukraine. Damit erreicht der Krieg eine neue Eskalationsstufe. Gleichzeitig birgt die Teilmobilmachung zum ersten Mal seit Kriegsbeginn eine ernsthafte Gefahr für Putins Herrschaft in Russland. Der Versuch einer Einordnung.
Stichwort
Die Kolumne von Paul Stich,
Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Österreich.
Der Krieg in der Ukraine verläuft für die russische Regierung so schlecht, dass nun. 300.000 Menscheneingezogen werden sollen, um die Verluste der russischen Armee auszugleichen. Damit ist zu befürchten, dass der Krieg sein Ende noch lange nicht erreicht hat.
Dabei liest sich die Bilanz nach einem halben Jahr Krieg bereits wie eine Horrorgeschichte: Zehntausende getötete Soldaten auf beiden Seiten, rund sechs Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, rund acht Millionen zusätzliche Binnenflüchtlinge. Unzählige zerstörte Wohnungen, Schulen und sonstige Infrastruktur.
Wieder einmal bewahrheitet sich im Verhalten der russischen Regierung eine alte Faustregel: Im Krieg der Reichen sterben die Armen.
Denn es sind nicht Putin oder seine Oligarchen-Gang selbst, die mit den Konsequenzen des Krieges, den sie zur Durchsetzung ihrer eigenen strategischen (Kapital-)Interessen begonnen haben, leben müssen. Ganz im Gegenteil: Es ist die normale arbeitende Bevölkerung, die bald an der Front stehen muss und unter dem konstruierten Vorwand, angebliche russische Sicherheitsinteressen zu schützen, zum Kanonenfutter wird.
Der Krieg in der Ukraine ist kein Zufallsprodukt eines irren Präsidenten
Diese angeblichen Sicherheitsinteressen, die seit Beginn der Invasion im Februar als Kriegsgrund angeführt werden, lohnen sich für eine genauere Betrachtung. Denn das Argument dient als Vorwand, um ein Abkippen der Ukraine in den westlich-kapitalistischen Einflussbereich zu verhindern. Würde dies passieren, ergibt das für die aktuelle russische Elite zwei Probleme.
Zum einen auf politischer Ebene. Präsident Putin und seine Gang fürchten offenbar die Ausbreitung bürgerlicher Demokratien in den bisher russisch dominierten Einflussbereich, der sich vor allem aus Ex-Sowjetrepubliken zusammensetzt. Dahinter steckt wohl die Angst, durch liberale Freiheiten wie die Pressefreiheit die eigene Herrschaftsgrundlage zu verlieren.
Zum anderen auf der Ebene der wirtschaftlichen Vormachtstellung einer bestimmten Gruppe. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sicherten sich einige wenige Menschen, meist ehemalige Höhergestellte in der UdSSR, durch die rasche Privatisierung des nahezu gesamten Staatsbesitzes riesige Vermögenswerte (Produktionsmittel), die sie langfristig zu sehr reichen Menschen machen sollten. Heute nennen wir diese Gruppe Oligarchen. Ihr Besitz an Produktionsmitteln sichert ihnen unglaublichen Reichtum, der in jeder kapitalistischen Struktur auch mit politischer Teilhabe einhergeht. Diese Gruppe sieht durch die drohende politische Umwälzung ihr Geschäftsmodell in Gefahr und fürchtet das Aufstreben einer konkurrierenden Schicht an KapitalistInnen in einem westlich orientierten Kapitalismus. Das verwobene Interesse dieser beiden Gruppen ist auch ein Erklärungsmuster, warum die Proteste in Belarus nach den letzten Präsidentschaftswahlen mit russischer Hilfe derart aggressiv unterdrückt wurden.
Eine Ukraine, die nach westlich-kapitalistischen Standards organisiert wird, ist daher kein Problem und schon gar keine Bedrohung für “Russland” per se, sondern ausschließlich für den russischen Präsidenten, seine Oligarchen-Gang und ihre Art, die Profite aus der Arbeit der arbeitenden Bevölkerung einzustreifen. Inwiefern sich die ökonomische Situation letztgenannter Gruppe in einer westlich-kapitalistischen Ukraine wie von Zauberhand verbessern würde, sei dahingestellt.
Die Invasion in der Ukraine scheint daraus folgend aus einer defensiven Position zu kommen, da die Aufrechterhaltung des russischen Einflusses nur mehr über militärische Mittel, nicht aber über “Soft-Power”, also wirtschaftliche und diplomatische Angebote, sicherzustellen war. Sie ist jedoch keinesfalls die Tat eines “Wahnsinnigen”, sondern versucht, die Herrschafts- und Kapitalinteressen von Putin und seiner Oligarchen-Gang abzusichern.
Die Teilmobilisierung als Risiko für Putins Hegemonie
Aufbauend auf diesem Fundament erscheint es nachvollziehbar, dass die russische Regierung versucht, den Krieg lediglich als “Spezialoperation” darzustellen. Unterlegt wird dies mit dem üblichen Ausmaß an Kriegspropaganda rund um die Ukraine als “Nazi-Staat”.
Kurzer Exkurs: Ja, es gibt auch in den ukrainischen Streitkräften neonazistische Strukturen. Wenn es Putin allerdings wirklich um den Kampf gegen Neonazis gehen würde, hätte er einerseits in seiner eigenen Armee genug zu tun und sollte andererseits aufhören, rechtsextreme bis neofaschistische Parteien in Europa finanziell zu unterstützen.
Mit der nun erfolgten Teilmobilisierung bricht dieses Argument aber ohnehin zu einem gewissen Grad in sich zusammen. Die russische Regierung muss nun eingestehen, dass die “kleine Operation zur Friedenssicherung” aus dem Ruder läuft. Das verschafft auch der russischen Zivilgesellschaft eine Möglichkeit, um im Diskurs einhaken zu können. Jede Regierung fürchtet eine starke Zivilgesellschaft, die die Ziele und Sinnhaftigkeit eines solchen Krieges offen zu einem gesellschaftlichen Thema macht. Es ist daher davon auszugehen, dass die russische Regierung versuchen wird, ihre ohnehin schon strikte Medienzensur weiter auszudehnen.
Dazu kommt ein weiterer Aspekt, der die Hegemonie der Regierung gefährdet: Es ist die eine Sache, wenn reguläre Truppen weit weg von der Zivilgesellschaft Einsätze absolvieren. Die Mobilisierung von 300.000 Reservisten, die aus ihrem zivilen Leben, aus ihren Jobs und ihren Familien gerissen werden, um in einen Krieg zu ziehen, birgt weiteres gesellschaftliches Sprengpotential.
Es ist zu hoffen und es gilt alle Hebel in Bewegung zu setzen, dass die russische Opposition dieses Momentum nutzen kann, um eine gesellschaftliche Front gegen den Krieg aufzubauen, die in wirksamen Protesten und Streiks gegen den Krieg münden, die Putin und seine Oligarchen-Gang zum Einlenken bewegen, oder zu Fall bringen. Die Chancen dafür scheinen so gut zu stehen, wie noch nie seit Kriegsbeginn.
Ein Sturz Putins löst das Problem nicht automatisch
Die Einordnung des Krieges als ein Produkt aus geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen einer bestimmten Gruppe innerhalb der russischen Gesellschaft, anstatt als Ergebnis des Handelns eines verrückt gewordenen Präsidenten, erschwert jedoch auch den Ausweg aus dem Krieg. Denn ob sich in der Politik der russischen Regierung in einem anzustrebenden, aber aktuell noch fiktiven Nach-Putin-Russland etwas ändert, hängt davon ab, welche Gruppierungen mit welchen Interessen Putin stürzen und die Macht übernehmen kann.
Es braucht daher eine umfassende gesellschaftliche Bewegung von unten, die nicht mehr länger die Interessen einiger Oligarchen, sondern die Interessen der breiten Bevölkerung vertritt. Nur dann kann es in der Ukraine und auch darüber hinaus langfristig Frieden geben.