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„Zwischen zwei Welten – und in keiner zuhause“: Die Identitätskrise und der endlose Kampf migrantischer Frauen

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Ein Zuhause: Was ist das eigentlich? Sonja, Ayaka, Hana und Soraya sind vier Frauen mit Migrationsgeschichte in Österreich. Wie finden sie “ihren Platz” zwischen zwei Welten, wenn alles fremd und entwurzelt wirkt? Ein Versuch, ihren Alltag zu beleuchten.

Jede:r sucht nach einem Zuhause oder nach dem Gefühl “Angekommen zu sein” – für Menschen mit Migrationsgeschichte ist das ein umso intensiveres Erlebnis – Stichwort: Diskriminierung und Rassismus.

Steckbrief
Kardelen Melis Yilmaz ist in Istanbul aufgewachsen und lebt seit 12 Jahren in Wien. Sie ist studierte Politikwissenschafterin, begeisterte Tänzerin und Tanzlehrerin. Sie studiert im Masterstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Politisch engagiert sie sich derzeit in der Jungen Generation der SPÖ in Hernals und setzt sich dort als Anti-Rassismusbeauftragte gegen Diskriminierung ein. Tanzen ist ihr Kindheitstraum und bedeutet für sie Heimat. Dieses Gefühl möchte sie anderen in ihren Tanzstunden weitergeben.

Von Pirouetten und Träumen

Sonja besucht meine Tanzstunden. Tanzen war immer ihre Leidenschaft – doch erst jetzt, mit 44, kann sie sich diesen Wunsch erfüllen. Lange Zeit hat sie Büroräume gereinigt, in der Gastro gearbeitet und kämpft immer noch um eine sichere Zukunft. Sie macht gerade eine Berufsausbildung und kann nur stundenweise arbeiten – ihre drei Kinder warten zuhause, sie ist alleinerziehend. Die Jobsuche in Wien ist frustrierend. Ihre Deutschkenntnisse sind begrenzt, aber sie gibt nicht auf. Sie ist aus Bosnien gekommen und hat trotz der Scheidung von einem gewalttätigen Mann gelernt, hier zu überleben und weiterzumachen. Sie hat Tränen in den Augen, wenn sie von ihrer Geschichte erzählt. „Ich fühle mich manchmal sehr schwach“, fügt sie hinzu, doch wenn sie tanzt, ist sie stark.

Fremd in Österreich: Die feinen Unterschiede

Ayaka studiert Soziologie. Aus Japan ist sie nach Wien gekommen, voller Erwartungen. Doch sie fühlt sich oft unsichtbar. „Man sieht mich nicht, man sieht nur mein Land. Ich bin aber doch auch ein Individuum wie alle anderen“, sagt sie. Auf ihre Herkunft will sie nicht reduziert werden. Zurück will sie aber auch nicht – das Arbeitsleben in Japan lässt kein Überleben zu. Sie fragt sich oft, wann dieses Gefühl von Fremdsein in Österreich nicht mehr spürbar sein wird.

Hier und doch nicht angekommen: Migrantinnen in Österreich 

Diese Geschichten wirken vielleicht wie Einzelfalle. Aber sie sind es nicht. Studien zeigen, dass diese Erfahrungen kein Zufall sind. Sie sind Teil eines größeren Musters.

Frauen mit Migrationsgeschichte stellen die ärmste Gruppe in Österreich dar. Trotzdem wird kaum aus ihrer eigenen Perspektive berichtet. Weniger zu verdienen, das  bedeutet nicht nur finanzielle Unsicherheit – es bedeutet auch Einsamkeit, Hilflosigkeit, weniger Teilhabe und verschärfte soziale Probleme. Besonders geflüchtete Frauen sind laut einer Studie der WU Wien stärker gesundheitlich und psychosozial belastet.

Viele Frauen mit Migrationsgeschichte in Österreich erleben ähnliche Situationen wie Sonja und Ayaka – unabhängig von ihrer Ausbildung oder ihren Lebensumständen – manchmal zeigt sich Rassismus gegen sie verdeckter, manchmal sichtbarer. Ein weiteres Beispiel:

Hana ist Musical-Darstellerin. Sie betont, dass es für sie am Anfang besonders schwierig war, für Rollen gecastet zu werden. Sie hatte das Gefühl, dass sie mehr als alle ihre österreichischen Kolleginnen leisten musste, um gleiche Chancen zu bekommen. Heute unterrichtet sie Ballet an der Universität Wien. Ihr Durchhaltevermögen hat sich ausgezahlt. Den andere Migrantinnen wünscht sie einen weniger steinigen Weg, als sie ihn hatte.

Tanz ist für viele Frauen ein Rückzugsort. Für die Recherche hat Kardelen Melis Yilmaz einerseits mit Frauen, die ihre Tanzstunden besuchen, und andererseits mit Bekannten aus ihrem Umfeld gesprochen. // Bildcredits: Foto von Ahmad Odeh auf Unsplash

Soraya kämpft mit der Sprache. Deutsch mit Muttersprachler:innen zu üben, das wäre ihr wichtig. Doch wenn sie Deutsch spricht, bekommt sie oft keine Antworten oder ihr Gegenüber reagiert mit Ungeduld. Also bleibt sie beim Englischen. Manchmal erfährt sie dann genau dafür erneut Ablehnung. Ihre Familie unterstützt sie – solange sie den Regeln ihrer Religion treu bleibt. 

Wenn man in allen Lebensbereichen benachteiligt ist, sich bei der Job- und Wohnungssuche mehrfach härter als andere bemühen muss und bereits beim ersten Schritt zur gesellschaftlichen Teilhabe – dem Spracherwerb – nicht vorankommen kann, kann man sich nicht zuhause fühlen. Selbstverständlich wirken sich diese Hürden auch auf Frauen in psychosozialer Hinsicht aus.

Der Bericht Blickwechsel – Migration und psychische Gesundheit zeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund in der Aufnahmegesellschaft sozioökonomisch und dadurch psychosozial benachteiligter sind – und besonders Frauen sind davon betroffen. Hinzu kommt, dass das Heimatland häufig mit seinen vorherrschenden sozialen Normen und begrenzten Ressourcen Frauen weder Sicherheit noch Perspektiven gewährleistet.

Wenn das Zuhause aber weder hier noch dort ist – wo ist dann Zuhause?

Frauen mit Migrationsgeschichte: Zwischen zwei Welten

Die Zeit vergeht und das Zuhause ändert sich, alles ändert sich, man fühlt sich entfremdet, entwurzelt. Hinzu kommt, dass die Aufnahmegesellschaft eine bestimmte Lebensweise vermittelt, die sich viele Migrantinnen aufgrund ihres täglichen Überlebenskampfs nicht leisten können. Andererseits bedeutet das für Frauen oft zusätzlichen Druck: Rückkehr ist keine Option und in der Aufnahmegesellschaft fühlt man sich auch nicht willkommen.

Es bleibt die Frage: Was machen wir in unserem Alltag, wenn wir diesen Frauen begegnen? Nehmen wir ihre Lage wahr, hören wir ihnen zu, öffnen wir Türen? Oder lassen wir zu, dass die langsame Bürokratie, starre Strukturen und die  verschlossene Freundschaftskultur in Österreich diese Frauen noch stärker ausschließen und ihnen ihre Chancen rauben?

Gibt es eine Welt in der Sonja ihre Träume leben und ihre Pirouetten schon früher drehen hätte dürfen. Ich hoffe es.

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