Wer an den Begriff „Populismus“ denkt, denkt fast schon automatisch an Sebastian Kurz, FPÖ und Konsorten. Doch auch dem neuen Parteivorsitzenden der SPÖ, Andreas Babler, wird Populismus unterstellt. Dabei muss Populismus gar nichts Schlechtes sein. Das meint zumindest die belgische Politologin Chantal Mouffe, sie wird diesen Samstag 80 Jahre alt. Ein Überblick über ihr Werk.
„Das ist doch Populismus!“ – Diesen Satz werden alle, die sich mit dem politischen Tagesgeschehen näher beschäftigen, schon des Öfteren gehört haben. Während man in den letzten Jahren vor allem rechte Parteien wie die FPÖ mit dem Populismus-Begriff in Verbindung gebracht hat, sind momentan vor allem konservative Stimmen lauter, die linken Parteien den Populismus-Vorwurf machen. So wird beispielsweise der neue SPÖ-Parteichef Babler von einigen Medien und politischen Mitbewerber:innen als „Linkspopulist“ bezeichnet. Populismus ist somit ähnlich wie Mundgeruch – immer das, was der andere hat.
Was denn Populismus nun genau sein soll, scheint aber immer noch unklar zu sein. In der politikwissenschaftlichen Forschung hat man jahrzehntelang versucht, den Populismus entweder mit bestimmten Ideologien zu verknüpfen oder ihn prinzipiell als gefährlich zu bezeichnen.
Ein erster Wendepunkt wurde Ende der 1980er-Jahre erkennbar: Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe hat, gemeinsam mit ihrem 2014 verstorbenen Lebensgefährten Ernesto Laclau, das Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ veröffentlicht. In ihrem Werk kritisieren sie das damals vorherrschende Verständnis von „Marxismus“ und versuchen, ihn zu erneuern. Die Lösung liegt für sie in einer „radikalen Demokratie“. Das Buch gilt heute als Standardwerk der politischen Theorie.
Viele liberale Politiker:innen und Meinungsmacher:innen (wie der Philosoph Jürgen Habermas) meinen, dass es in der Politik um Konsensfindung geht. Für sie gibt es politische Probleme, die durch eine rationale Lösungsfindung innerhalb eines demokratischen Prozesses bestmöglich gelöst werden können. Dieser Idee erteilt Chantal Mouffe in ihrem Buch „Über das Politische. Wider der kosmopolitischen Illusion“ eine klare Absage. Für Mouffe gibt es im „Politischen“ immer eine Einteilung in ein „Wir“ und ein „Sie“. Populist:innen werden für diese Einteilung oft kritisiert. Mouffe meint jedoch, dass eine Politik, die diesen Gegensatz leugnet, unpolitisch ist – und damit auch zur Politikverdrossenheit beiträgt.
Wenn linke Parteien nicht versuchen, eine Unterscheidung zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ herzustellen – und die herrschende Politik somit nicht mehr grundlegend in Frage stellen – übernehmen rechte Parteien wie die FPÖ diese Aufgabe. Im Unterschied zu rechten Parteien sieht sich Mouffe jedoch als „radikale“ Demokratin. Soll heißen, dass es zwar immer einen Unterschied zwischen „uns“ und den „anderen“ in der Politik gibt, dieser Unterschied jedoch in Form der „Akzeptanz“ des politischen Gegners in die parlamentarische Demokratie eingebettet werden soll.
2018 erschien Mouffes Werk „Für einen linken Populismus“, das weit über das Fachpublikum hinaus gelesen und gefeiert wurde. Mouffe stellt fest, dass der Populismus nicht an eine Ideologie oder eine politische Richtung gebunden ist. Im Gegenteil: Für Mouffe ist der Populismus überhaupt erst die Bedingung für jede Politik, die wirklich „politisch“ sein möchte. Laut ihr können auch soziale Bewegungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben, zusammen kämpfen, wenn sie es schaffen, einen gemeinsamen inhaltlichen Nenner und einen Gegner zu finden. Mouffe, eine erklärte Kritikerin des Neoliberalismus, sieht diesen Gegner in der „Oligarchie“. Also in einem System, in dem es sich einige wenige Mächtige und Reiche richten können, während der große Teil der Menschen immer mehr durch die Finger schaut.
Chantal Mouffe ist auch eine Kennerin der österreichischen Politik. Anhand ihrer Theorie hat sie den Aufstieg von Jörg Haider vorhergesagt. Österreich hat sich jahrelang in einem „Proporz-System“ befunden, in dem sich die beiden großen Lager SPÖ und ÖVP das Land politisch aufgeteilt haben. Diese „große Koalition“, so sinnvoll sie nach den Geschehnissen der Ersten Republik auch gewesen ist, hat jahrzehntelang versucht, einen Konsens zwischen den beiden Parteien herzustellen. Der hat letztendlich aber zu politischem Stillstand geführt. An einem „Wir“/„Sie“-Verhältnis war weder die SPÖ noch die ÖVP großartig interessiert. Erst Jörg Haider hat wieder verstanden, dass die Politik diese Unterscheidung braucht. Haider hat es auch geschafft, politische „Leidenschaft“ zu instrumentalisieren, die zu dieser Zeit lange fehlte. Mouffe kommt daher auch zu dem Schluss:
„Will man den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien stoppen, so ist es notwendig, eine politische Antwort in Form einer linkspopulistischen Bewegung zu ersinnen.“
Genau das hat Kreisky übrigens auch verstanden, weshalb Mouffe ihn in einem Vortrag in Wien auch als „erfolgreichen Populisten“ bezeichnete.
Heutzutage leben wir freilich in anderen Zeiten. Wir haben eine schwarz-grüne Regierung, die konsequent eine arbeitnehmer:innen-feindliche Politik betreibt. Und eine SPÖ, die auf der Oppositionsbank sitzt. Viele bemängeln, dass die politischen Lager schon lange nicht mehr so zerstritten waren wie jetzt. Für Mouffe stellt das kein Problem dar, solange der Streit innerhalb eines demokratischen Systems stattfindet, in dem sich die Lager einander als „politische Gegner“ respektieren.
Natürlich hat Chantal Mouffe, die diesen Samstag ihren 80. Geburtstag feiert, keine Patentlösung für die Probleme unserer Zeit. Offen bleibt beispielsweise, wie ein „Wir“ und ein „Sie“ innerhalb einer Koalitionsregierung hergestellt werden soll, in der es notwendigerweise um Kompromisse geht. Dennoch hilft uns Mouffes Theorie zu verstehen, wie das wahre Wesen des Populismus – und der Politik insgesamt – aussieht. Am kommenden Montag erscheint die deutsche Übersetzung ihres neuesten Buches mit dem Titel „Eine Grüne demokratische Revolution: Linker Populismus und die Kraft der Affekte“. Wir dürfen gespannt sein, wie sie die politische Situation der Gegenwart aus ihrer Sicht erklärt. Fest steht jedoch jetzt schon: Wenn politische Gegnerinnen und Gegner der SPÖ in den kommenden Monaten „Populismus“ vorwerfen, können wir getrost mit einem „Na und?“ antworten.
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