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Mit eigenem Genossenschafts-Laden: Wie sich die Weber aus Rochdale selbst halfen

Der ursprüngliche Laden in Rochdale ist heute ein Museum. // Bild: Wikimedia/Scarletharlot69 (CC BY 3.0, Link: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/)

Am 21. Dezember 1844 wurde ein kleiner Laden eröffnet, welcher zum Meilenstein der genossenschaftlichen Geschichte wurde. Von den redlichen Pionieren von Rochdale ist die Rede, die aus ärmlichsten Verhältnissen eine Weltorganisation geschaffen haben.

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Salon Cooperativ – Genossenschaften erklärt
Die Kolumne von Christian Pomper

Der Name der Stadt Rochdale, ein kleines Städtchen in der Nähe von Manchester, Großbritannien, hat für alle Genossenschafter einen ehrwürdigen Klang. George Jacob Holyoake, einer der ältesten und begeistertsten Genossenschafter und Autor der „Geschichte der redlichen Pioniere von Rochdale“, preiste die Ufer der Roch als die eines zweiten Tibers, von wo aus die Genossenschaftsidee die Welt erobert hat.

1844 – arme Flanellweber greifen zur Selbsthilfe

Wir befinden uns mitten in der industriellen Revolution. Die Lage ist verheerend. Dennoch beschlossen damals einige Dutzend armer Flanellweber, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und Mittel zur Rettung aus ihrem tiefen Elend zu finden. Alle bisher versuchten Mittel – Verhandlungen mit den Fabriksherren, Versammlungen, Reden, Streiks – hatten das Übel nur noch verschlimmert, die Lage schien völlig verzweifelt.

Die Fabrikanten hatten Geld, die Händler Lager, was konnten sie ohne beides beginnen? Das wäre Abhängigkeit und Unfreiheit gewesen. Sollten die armen Flanellweber auswandern? Das wäre der Strafe der Deportation für das Verbrechen, arm geboren zu sein, gleichgekommen. Was sollten sie anfangen? Sie beschlossen, den Kampf ums Dasein auf eigene Rechnung zu beginnen. Sie wollten, so gut sie es konnten, selbst Fabriks- und Mühlenbesitzer, Kaufleute und Produzenten werden. Ohne Erfahrungen, Kenntnisse und Geldmittel wollten sie selbst unternehmerisch tätig werden, um sich so selbst zu helfen.

Die Pioniere von Rochdale gründeten eine erfolgreiche Genossenschaft
Die “Pioniere von Rochdale” gründeten 1844 eine Genossenschaft. // Bild: Wikimedia

In einem ersten Schritt sollte ein Laden zum Verkauf von Lebensmitteln, Kleidung und überhaupt der gewöhnlichen Bedürfnisse der Arbeiter gegründet werden. Dies gelang mit einem Kapital von 28 Pfund. Ausgestattet mit einem Bestand der notwendigsten Lebensbedürfnisse (Kartoffeln, Butter, Öl und Seife) wurde die Eröffnung auf den 21. Dezember 1844 festgesetzt. Am Abend eines echt englischen, finsteren und nassen Wintertages füllten sich die benachbarten Straßen mit Neugierigen, unter denen nur wenige mit Wohlwollen und Vertrauen, die meisten aber mit Mitleid oder Spott der kommenden Dinge harrten. Tatsächlich hieß es in der ganzen Stadt, dass die armen Weber vor Hunger und Kummer verrückt geworden seien. Der Eindruck, den die ganze Sache machte, war so wenig ermutigend, dass selbst der Vorstand der Genossenschaft sich erst nach Einbruch der Dunkelheit heranwagte, um möglichst unbemerkt in den Laden zu schlüpfen, dessen Eröffnung dann mit allgemeinem Geschrei der Gassenjungen: „Die verrückten Weber haben eröffnet“, begrüßt wurde.

Die ersten Kunden waren außer den 28 Mitgliedern der Genossenschaft noch einige Fremde, die aus Neugierde oder Mitleid in den Laden kamen, so dass schließlich die Genossenschaft am ersten Tag ihrer Tätigkeit auf Einnahmen von 18 Shilling hinweisen konnte.

Rochdale: Von 28 Mitglieder zur 5-Millionen-Genossenschaft

Nach diesen spärlichen Anfängen ist es jedoch fulminant weitergegangen. Die armen, halbverhungerten Weber haben ihren ursprünglichen Vorsatz tatsächlich ausgeführt. Schon nach zehn Jahren waren sie wirklich Fabriks- und Mühlenbesitzer, große Kaufleute und Produzenten, verfügten über Millionen und das kleine Städtchen Rochdale hat einen wunderbaren Aufschwung erfahren.

Die Rochdaler Pioniere können sich aber auch zahlreiche andere Errungenschaften an die Fahnen heften. So war das Frauenwahlrecht innerhalb der genossenschaftlichen Organisation selbstverständlich. Ebenso wie soziale Arbeitsbedingungen, Firmenpensionen und der 8-Stunden-Arbeitstag. Wir befinden uns Ende des 19. Jahrhunderts wohlgemerkt. 1907 wurde ein Mindestlohn eingeführt, während den Weltkriegen wurden die Löhne an die Familie weiterbezahlt.

Spannend, was 28 Mitglieder mit 28 Pfund in der Tasche und großartigen Vorsätzen erreichen können. Die heute unter „The Co-operative Group“ firmierende Genossenschaft zählt mit nahezu 5 Mio. Mitgliedern zu den größten Konsumgenossenschaften weltweit. Die Genossenschaft ist mit 2.500 Filialen und 70.000 Mitgliedern der fünftgrößte Einzelhändler, die Nr. 1 unter den Bestattungsunternehmen und bedeutender Versicherer im Vereinigten Königreich.

Heute heißt die Genossenschaft aus Rochdale „The Co-operative Group“ und betreibt 2.500 Filialen.
Heute heißt die Genossenschaft aus Rochdale „The Co-operative Group“ und betreibt 2.500 Filialen. // Bild: Wikimedia/Kaihsu Tai (CC BY-SA 3.0)

Erfolgsfaktor: Die Rochdaler Grundsätze

Einen wesentlichen Erfolgsfaktor der redlichen Pioniere stellen deren Grundsätze dar, wiewohl diese mehr praktischen als theoretischen Charakter haben. Obwohl genossenschaftliche Grundsätze schon vorher bestanden, strahlen bis heute die gelebten Grundsätze der Rochdaler auf die internationale Genossenschaftsbewegung aus. Die Sätze der Rochdaler bieten ein seltenes Beispiel für das Zusammenfassen von Menschen zu schöpferischem Zweck und Ziel. Aus diesem Grund hatten sie und haben sie noch heute eine so ungeheure praktische Bedeutung.

„Ich hab´s, ich hab´s! So müssen wir es teilen!“

Der wichtigste Grundsatz der Rochdaler ist der, nach Abzug der Beträge, die zur Zinszahlung für die Anteilscheine, zur Bildung eines Reservekapitals und zur Amortisation nötig sind, den gesamten Reingewinn nach der Höhe der Einkäufe der einzelnen Genossenschafter zu verteilen. So erhalten die Genossenschafter für ihre Einkäufe eine Rückvergütung, die an Höhe die Zinsen für die Anteilscheine übertrifft. Aus diesem Vorgehen erwachsen das Interesse und eine treue Anhänglichkeit der Genossenschafter an die Vereinigung: Jeder weiß, dass er umso höhere Rückvergütung beziehen wird, je mehr Waren er seiner Genossenschaft entnimmt, d.h. je weniger er außerhalb bei den Händlern kauft. Und diese Rückvergütung stellt eine sehr beträchtliche Hilfe im Haushalt des Arbeiters dar. Sie gewährt die Möglichkeit, einen Anzug, ein Möbelstück oder sonst irgendetwas anzuschaffen. Der ebenerwähnte Grundsatz ist jedoch nicht nur vom materiellen Standpunkt aus, sondern zugleich auch als Verkörperung großer und erhabener Gerechtigkeit zu werten. Wer kauft in einer Verbrauchergenossenschaft am meisten? Gewiss nicht der Junggeselle, vielmehr der Vater oder die Mutter, die eine große Familie zu versorgen haben, und gerade dieser erhält die größere Rückvergütung.

Kein Kauf auf Borg – der Konsumkredit ist verpönt

Ein anderer Grundsatz der Rochdaler – an Wert an zweiter Stelle stehend – ist der, nur gegen sofortige Barzahlung zu kaufen und zu verkaufen. Die Verbrauchergenossenschaften, die vor den Rochdalern bestanden, haben sich hauptsächlich deshalb nicht halten können, weil sie die Waren auf „Borg“ abgaben. Die Pioniere von Rochdale waren nicht weniger arm als die Mitglieder jener genannten Vereinigungen, die wieder aufhörten zu existieren. Trotzdem haben sie – um des gemeinsamen Wohles willen – die strenge Pflicht auf sich genommen, bei der Genossenschaft nichts auf Borg zu entnehmen. Sie haben auf diese Weise sich selbst und die anderen Genossenschafter von der erdrückenden Abhängigkeit von den kleinen Kaufleuten befreit, die gern auf Borg verkaufen und sich gegen Verlust dadurch sichern, dass sie erhöhte Preise fordern und Waren von schlechter Beschaffenheit liefern. Außerdem hat dieser Grundsatz, nur gegen sofortige Barzahlung zu verkaufen, Millionen von Menschen daran gewöhnt, keine unnützen Einkäufe zu machen und sich in der Lebenshaltung nach den vorhandenen Mitteln zu richten.

Politische und religiöse Neutralität

Der dritte Grundsatz der Rochdaler ist, politische und religiöse Neutralität zu wahren. Seine große Bedeutung hat sich erst später erwiesen, als in die Verbrauchergenossenschaften Angehörige verschiedener Bevölkerungsklassen eintraten. Obgleich die Pioniere von Rochdale alle Arbeiter waren, so bestand doch unter ihnen keine einheitliche Lebensanschauung. Zum Teil waren sie Anhänger Robert Owens, andere waren Chartisten, wieder andere Anhänger einer religiösen Sekte, die hauptsächlich den Alkoholgenuss bekämpfte, noch andere standen unter dem Einfluss von Dr. Wilhelm King. Um nicht von Anfang an miteinander in Streit zu geraten, waren die Pioniere von Rochdale genötigt, die Politik auszuschließen. Die politische und religiöse Neutralität wurde so streng beobachtet, dass Wilhelm Cooper, ein Mitglied des Verwaltungsausschusses, einen Verweis erhielt, weil er in einer Zeitschrift die Liste der Mitglieder mit der Angabe ihrer Konfession veröffentlicht hatte. Die Neutralität der Pioniere von Rochdale ging so weit, dass selbst der Polizeichef von Rochdale der Genossenschaft angehörte, eine Tatsache, die dem Arbeiter um 1929 – soweit er dem europäischen Festland angehörte – fast unmöglich erscheinen muss. Ganz allgemein bieten die Pioniere von Rochdale ein klassisches Beispiel angelsächsischer Duldsamkeit, die sich in folgendem Wahlspruch kundgibt: In den Hauptfragen – Einmütigkeit, in weniger wichtigen Fragen – Duldsamkeit und in allen Fragen – Wohlwollen.

Gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen

Der vierte Grundsatz der Rochdaler ist „Gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen“. Die Pioniere von Rochdale waren die ersten, die – nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat – die Gleichberechtigung von Männern und Frauen für alle Angelegenheiten der genossenschaftlichen Organisation anerkannten. Mit dem gleichen Wahlrecht haben sie die Gleichberechtigung für die Wahl zu öffentlichen Ämtern verknüpft. Jeder Genossenschafter hat bei der Wahl eine Stimme, ohne Rücksicht auf die Zahl seiner Anteilscheine. Die Höhe eines Anteilscheines wurde von den Rochdalern auf ein Pfund Sterling festgesetzt, doch hat der Genossenschafter das Recht, diese Summe in mehreren Raten zu zahlen.

Bildung als Förderauftrag

Der fünfte Grundsatz der Rochdaler ist der Abzug von 2,5% des Reingewinns zu Bildungszwecken. Mittels der so gewonnenen Summen machen es die Pioniere von Rochdale möglich, die weniger gebildeten Genossenschafter durch Vermittlung elementarer Schulkenntnisse und Einrichtung von Lesezimmern und Büchereien weiter zu fördern.

Rochdale-Genossenschaft: Selbsthilfe aus Prinzip

Zusammenfassend enthalten die Rochdaler Pioniere und deren Grundsätze die Quintessenz des modernen Genossenschaftswesens, welche bis heute ausstrahlen. Die Entwicklung des Genossenschaftswesens hat dabei sowohl eine gesellschaftspolitisch wie auch ökonomisch wichtige Dimension. Sie markiert um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ausgehend von England, den Beginn unserer heutigen demokratischen, sozialen und marktwirtschaftlichen Gesellschaftsform. Was Rochdale für die Industriearbeiter war, bedeutete Raiffeisen für die aus der Grundherrschaft entlassene bäuerliche Bevölkerung und Schulze-Delitzsch für die Handwerker, welche gegen die neue Konkurrenz arbeitsteiliger Industriebetriebe bestehen mussten.

Die Selbsthilfe der prägenden sozialen Gruppierungen in einer Zeit des dramatischen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels zeigt, dass die Gesellschaft in der Lage ist, mit Hilfe der Genossenschaftsidee – durch die Verbindung von Gemeinschaftseigentum und ökonomischen Prinzipien – den „dritten“ Weg zwischen Kommunismus und schrankenlosem Kapitalismus zu finden.

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