Der Ökologe Franz Essl ist Österreichs Wissenschaftler des Jahres 2022. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit dem Thema Artenvielfalt. Die NeueZeit traf den Wissenschaftler mit oberösterreichischen Wurzeln zum Interview. Darin erklärt er, welche Folgen die übermäßige Ausbeutung der Natur für unser Zusammenleben hat, warum es der Politik so schwerfällt, Umweltschutz zu betreiben und was die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft dagegen tun können.
NeueZeit: Sie sind Biodiversitätsforscher, beschäftigen sich also mit Artenvielfalt. Wie steht es um die Artenvielfalt in Österreich?
Franz Essl: Wenn ich ein Ampelsystem verwenden würde, dann sind wir beim Zustand der Artenvielfalt sicher im roten Bereich. Wir wissen, dass in den letzten Jahrzehnten ganz viele Arten in vielen Regionen verschwunden sind. BirdLife-Österreich erhebt seit vielen Jahren die Brutvögelbestände. Daher wissen wir, dass innerhalb von 20 Jahren 40% aller Brutvögel in der Kulturlandschaft verschwunden sind. Wir haben zum Beispiel 40% weniger Feldlerchen. Das allein zeigt schon, wie rasant die Arten zurückgehen.
Woran liegt das?
Es liegt letztlich daran, dass wir Menschen einen viel zu großen ökologischen Fußabdruck haben, das heißt, wir beuten die uns umgebende Natur in einer Weise aus, die nicht nachhaltig ist. Das führt dazu, dass wir das grüne Fundament in unserer Gesellschaft Schritt für Schritt zerstören.
Eine intakte Artenvielfalt zeigt eine intakte Natur an. Wenn Artenvielfalt verloren geht, ist das ein Alarmsignal, dass Natur verloren geht.
Franz Essl ist Ökologe und Biodiversitätsforscher an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind der globale Umweltwandel und seine Folgen, die Auswirkungen des Klimawandels und die Artenvielfalt in Österreich. Für die Vermittlung seiner Forschungsergebnisse über die Medien und sein Engagement in klimapolitischen Fragen wurde der gebürtige Oberösterreicher vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten zum Wissenschaftler des Jahres 2022 ausgezeichnet.
Wenn das Artensterben so weiter geht wie bisher, was wären die Folgen?
Gerade im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der diese Situation ja noch zusätzlich verstärkt, bedeutet es, dass das, was wir bisher als selbstverständlich angenommen haben – zum Beispiel, dass wir ausreichend und qualitativ hochwertige Nahrungsmittel produzieren können – in Zukunft nicht mehr sichergestellt sein wird. Wenn ganze Ökosysteme beginnen abzusterben, bedeutet das, dass der Schutz vor Naturgefahren, wie Lawinen und Muren nicht mehr gewährleistet ist. Wir bekommen Risiken, die wir bisher gar nicht gekannt haben und die – wenn wir nicht gegensteuern – längerfristig unsere Gesellschaft destabilisieren werden.
Sie sagen, der Klimawandel verstärkt das Artensterben. Er ist also nicht der einzige Grund für den Rückgang der Arten. Was sind die anderen Ursachen?
Bislang ist der Klimawandel noch nicht die Hauptursache des Artenverlustes, sondern die Übernutzung der Lebensräume, also eine intensive Landwirtschaft und ein enormer Flächenverbrauch.
Jeden Tag werden in Österreich elf Hektar für Straßen, Verkehrsinfrastruktur oder Gewerbeflächen zugebaut.
Extensiv genutzte Lebensräume, die den Großteil der Artenvielfalt beherbergen – Blumenwiesen, Feuchtwiesen, Moore – diese Lebensräume sind heute in Österreich auf kleine Restflächen zurückgedrängt. Der Großteil der österreichischen Landschaft wird dagegen landwirtschaftlich genutzt, also gedüngt und gespritzt. Das langfristige Überleben vieler Arten wird dadurch verunmöglicht.
Man bekommt den Eindruck, dass in den Medien und in der Politik immer mehr über Biodiversität und den Erhalt der Artenvielfalt gesprochen wird und dass sehr viele Strategien ausgearbeitet werden. Aber man hört wenig von der Umsetzung. Woran liegt das?
Ich glaube, das Bewusstsein, dass wir die uns umgebende Natur zerstören, ist mittlerweile bei vielen Menschen angekommen. Wir betreiben aber häufig Scheinpolitik, wenn es um den Klimaschutz oder die Umwelt geht. Österreich ist gemeinsam mit vielen anderen Staaten sehr ambitionierte Verpflichtungen eingegangen. Aber wenn diese Maßnahmen dann auch umgesetzt werden müssen, gibt es plötzlich mangelnde politische Einsicht. In Niederösterreich zum Beispiel beträgt das Naturschutzbudget 15 Millionen Euro pro Jahr. Gleichzeitig beträgt das Straßen-Neubau-Budget 450 Millionen Euro. Daran sieht man schon, dass es offenbar keinen politischen Willen gibt, Klimaschutz zu betreiben oder die Zukunft so zu gestalten, dass es sich für Landwirte auch lohnt, naturschutzkonform zu wirtschaften.
Wenn politische Entscheidungen getroffen werden, haben etablierte Interessenvertreter ein starkes Gewicht. Auch wenn man sich die Parteienlandschaft in Österreich ansieht, ist es so, dass etwa die Sozialdemokratie das Umweltthema bislang sträflich vernachlässigt hat. Ich glaube sehr zum Schaden ihrer eigenen Klientel. Denn es ist klar, dass sich eine sozial ausgewogene Gesellschaft nur bewahren lässt, wenn man auch die Trendwende hin zu einer tatsächlich nachhaltigen Gesellschaft schafft.
Wie lässt sich Sozialpolitik mit Klimapolitik verbinden?
Meiner Ansicht nach müsste sich Energieverbrauch viel stärker steuerlich niederschlagen. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde mit der letzten Steuerreform gemacht. CO2-Steuern bepreisen ja nur etwas, wofür ansonsten die Gesellschaft bezahlt – nämlich mit den Folgeschäden, die der Klimawandel mit sich bringt. Verursacht werden Emissionen aber natürlich sehr asymmetrisch. Die zehn bis 20 Prozent der Menschen mit dem höchsten persönlichen Einkommen haben mit Abstand auch den höchsten Energieverbrauch. Wenn ich das angemessen und fair besteuere, kann ich das sozial verträglich abfedern – zum Beispiel, indem ich dafür Arbeit steuerlich entlaste.
Springen wir nach Oberösterreich. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die österreichisch-australische Firma ADX plant, in der Gemeinde Molln Gasbohrungen durchzuführen, weil sie annimmt, dass dort genug Gas liegt, um ganz Österreich drei Jahre lang mit Energie zu versorgen. Direkt daneben liegt aber ein Naturschutzgebiet und der Nationalpark Kalkalpen. Was halten Sie von den Plänen, dort nach Gas zu bohren?
Bei Probebohrungen ist es so, dass nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit etwas gefunden wird. Ob und wie viel Gas dort wirklich liegt, lässt sich nicht prognostizieren. Aber der Kernpunkt ist folgender: Eine Investition in Gasbohrungen, die heute getätigt wird, trägt nichts zur Lösung der aktuellen Energiekrise bei.
Selbst in dem Fall, dass dort wirklich diese Gasmengen liegen, könnte das Gas von dort frühestens in den 2030er Jahren durch Gasleitungen zu uns fließen.
Sprich in einem Zeitraum, der für unsere aktuelle Situation irrelevant ist. Ich würde mir von der Politik in Oberösterreich einen viel stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien erwarten. In Oberösterreich ist ein Windrad momentan nur mit der Lupe zu finden. Das zweite ist der konkrete Standort. Das Naturschutzgebiet würde durch Gasbohrungen natürlich stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich halte den Standort daher für ungeeignet. Es würde ja auch niemand einen Bohrturm in den Vorgarten des Schlosses Schönbrunn stellen.
Themenwechsel. Die Importe von fossilen Energieträgern aus Russland sind massiv zurückgegangen. Dafür importieren wir jetzt mehr Gas aus anderen Ländern.
Die Energiekrise zeigt eben die Versäumnisse der Vergangenheit auf. Kein anderes Land in Westeuropa war energiepolitisch so abhängig von Russland wie Österreich. Dieses Versagen zeigt, was der fossile Pfad für Risiken mit sich bringt. Man hat sich von wenigen anderen Ländern abhängig gemacht. Das fällt einem dann halt auf den Kopf. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis dazu führt, das Energiesystem deutlich umzubauen.
Umfragen zeigen: Österreich ist sehr wissenschaftsskeptisch. Rund ein Drittel der Bevölkerung vertraut der Wissenschaft kaum. Was kann man dagegen tun?
Wenn circa 30 Prozent der Wissenschaft kaum vertrauen, heißt das im Umkehrschluss, dass immerhin 70 Prozent der Menschen wissenschaftliche Evidenz anerkennen. Das ist schon eine satte absolute Mehrheit. Ein wesentlicher Schritt ist, dass die Wissenschaft und die Gesellschaft in einen Diskurs miteinander treten. Aus meiner Sicht ist es aber auch ganz wesentlich, wenn man zu einem Thema forscht, sich zu fragen, welche gesellschaftlichen Forderungen ich aus meiner Forschung ableiten kann. Denn wenn ich als Wissenschaftler weiß, dass zum Beispiel das 1,5 Grad-Ziel, zu dem sich Österreich und viele andere Staaten bekannt haben, nicht mehr erreichbar ist, und ich dann darüber als Wissenschaftler schweige, halte ich das für fahrlässig.
Sie haben sich gemeinsam mit über 40 anderen Forschern mit den Klimaaktivisten solidarisiert, die sich zum Beispiel auf Autobahnen festkleben und damit Staus verursachen. Schadet diese Form des Protests nicht, weil sie die Bevölkerung gegen sich aufbringt?
Grundsätzlich glaube ich, dass Protest ein Teil jeder demokratischen Kultur sein muss. Über den Rahmen kann man diskutieren. Ich verstehe, dass es nicht angenehm ist, im Stau zu stehen. Allerdings werden nur circa 0,01 Prozent aller Staus durch Klimaaktivisten verursacht. Staus gibt es primär, weil es viel zu viele Autos und zu viel Verkehr gibt.
Es gäbe heute in Österreich ein Atomkraftwerk, das in Betrieb wäre, hätte es nicht viele zivilgesellschaftliche Proteste dagegen gegeben.
Erfolge in der Umweltpolitik müssen auch erkämpft werden. Das ist alles andere als neu.
Der große Unterschied zu heute ist: Die damaligen Proteste haben sich immer gegen Einzelakteure gerichtet. Im Straßenverkehr betrifft der Protest heute nahezu jeden. Gäbe es eine ernsthafte Klimapolitik, dann gäbe es auch nicht die Notwendigkeit für diesen Aktivismus. Ich finde jeder, der diesen Protest kritisiert, sollte sich die Frage stellen, wo die Verursacher wirklich sitzen. Sie sitzen dort, wo die notwendigen Entscheidungen getroffen werden müssten, aber nicht getroffen werden.