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Interview mit Mittelschul-Lehrerin: “Bildungssystem in Österreich ist perspektivlos”

Sommerlich ist das Wetter zwar noch nicht, dennoch rückt der Schulschluss und damit auch die Sommerferien immer näher. Der Druck unter den Schülerinnen und Schülern um gute Jahresabschlussnoten steigt. Die NeueZeit hat mit einer Lehrerin, die an einer Mittelschule mit 1200 Schulkindern unterrichtet, über die Bildung in Österreich gesprochen. Das Interview dreht sich um den Schulalltag, was Kinder, die Lehrkräfte und Eltern aktuell brauchen, die Nachwirkungen der Pandemie und was für die “Schule der Zukunft” wirklich von Nöten wäre.

NeueZeit Frau Bäcker (Name von der Redaktion geändert), Sie stehen täglich in der Klasse und kennen die Sorgen, Probleme und Lernschwierigkeiten unzähliger Schülerinnen und Schüler. Wie geht’s den Kindern und Jugendlichen gerade?

Frau Bäcker: Die Energie ist ziemlich aufgebraucht und der Endspurt mit den letzten Schularbeiten belastet die Schülerinnen und Schüler ziemlich. Sie stehen gerade unter viel Druck, um das Schuljahr gut abzuschließen.

Was macht Ihnen, wenn Sie sich unser Bildungssystem ansehen, aktuell Sorgen?

Die Perspektivenlosigkeit. Wir reden immer nur davon, wie wichtig Bildung ist, aber davon kommt nichts an der Basis – also dem Schulsystem beziehungsweise den Schulen – an. Unser System baut darauf auf, dass es von engagierten Personen getragen wird, das kann auf Dauer nicht funktionieren. Es gäbe so viel wissenschaftliche Grundlagen dazu, aber uns fehlt in Österreich der Mut, unser Bildungssystem tatsächlich so umzubauen, dass es kindgerecht ist und lernen fördert. Wir versuchen durch kleine Änderungen, ein System zu erhalten, anstatt in Frage zu stellen, ob es noch zeitgemäß ist und aktuelle, wissenschaftliche Kriterien erfüllt.

“Uns fehlt in Österreich der Mut, unser Bildungssystem tatsächlich so umzubauen, dass es kindgerecht ist und lernen fördert.”

Wie gestaltet sich der tägliche Unterricht?

Je nach Klasse unterschiedlich. Wir haben heuer sehr große Klassen und es fällt vielen Kindern schwer, wenn sie nicht sofort das sagen können, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Unabhängig davon, ob das gerade zum Unterrichtsinhalt passt oder nicht. Damit wird der Unterricht oft unterbrochen und wir haben mehr Unruhe als in den Jahren vor der Pandemie. Außerdem kommt mir vor, dass einige schwerer zu begeistern sind. Den Satz „Das interessiert mich nicht“ habe ich heuer schon ziemlich oft gehört. Und zwar unabhängig vom Unterrichtsgegenstand und der Lehrperson, die den Unterricht gerade abhält. Konzentriert arbeiten fällt einigen heuer schwerer als sonst.

Welche Faktoren haben momentan generell einen Einfluss auf die Schulbildung?

Ein Faktor ist sicher die Unterstützung, die Kinder und Jugendliche haben. Das betrifft sowohl Unterstützung beim Schulalltag von erwachsenen Bezugspersonen zuhause als auch Unterstützung für persönliche Entwicklung, besonders in Bezug auf die psychische Gesundheit. Was auch eine Rolle spielt, ist, dass das jetzige Schuljahr das erste ist, dass nicht von Lockdown- und “distance learning”-Phasen unterbrochen ist. Vor allem die jüngeren Kinder haben wenig Erfahrung damit gemacht, dass Schulalltag etwas Regelmäßiges, Verlässliches ist. Also etwas, was auch einen Rahmen geben kann. Und dass Schule auch ein “safe space” (Anm. der Redaktion: ein sicherer Ort, an dem man sich wohlfühlen kann) sein kann, wenn man ihn sonst nicht hat.

Was brauchen die Schüler:innen gerade am dringensten?

Ich glaube, sie brauchen Unterstützung, und zwar Unterstützung, die wir als Lehrpersonen nicht leisten können. Also Angebote, die ihnen Stabilität ermöglichen, auch, wenn es die zuhause nicht gibt. Und das umfasst sowohl schulpsychologische Angebote, Schulsozialarbeit aber auch Freizeitangebote, die Stabilität und Bezugspersonen außerhalb der Schule bieten können.

Was brauchen die Lehrkräfte gerade am dringensten?

Ich würde mir Angebote wünschen, wo ich greifbare Informationen bekomme: was sind Anzeichen, bei denen ich mir Sorgen um „meine“ Kinder und Jugendlichen machen muss? Woran erkenne ich, dass sie nicht nur ein paar schlechte Tage haben, sondern wirklich Hilfe brauchen? Wie kann ich in der Schule gut auffangen, dass wir zu wenig psychologische Angebote für Jugendliche haben? Ein bisschen konkreteres Handwerkszeug als das, was wir als Lehrpersonen ohnehin haben. Unser Job ist schon lange kein reines “Wissen vermitteln” mehr, aber gut umgehen können wir damit oftmals nicht.

Spürt man die Pandemie in der Schule noch stark? Hat sie Nachwirkungen auf die Kinder und Jugendlichen?

Mein Eindruck ist, dass sich die Schüler:innen heuer sehr schwer tun, sich an soziale Regeln zu halten und sich an eine Gruppe anzupassen. Da geht es jetzt gar nicht primär um die schulische Leistung, sondern um das tägliche Miteinander im Klassenzimmer. Sie haben nicht gelernt, wie sie sich untereinander verhalten müssen und es fällt ihnen auch schwer, sich an von Erwachsenen vorgegebenen Regeln zu halten.

Und zur Leistung: ich habe das Gefühl, dass die Pandemie dazu geführt hat, dass Kinder und Jugendliche es gewohnt sind Arbeitsaufträge, mehr oder weniger, selbstständig zu erledigen. Was ihnen schwerer fällt, ist dieses klassische Lernen: Also Vokabel oder mathematische Formeln oder so etwas lernen, was man nicht verstehen muss, sondern aus dem Gedächtnis abrufen kann.

Hat auch die Teuerung einen Einfluss auf den Schulalltag oder sind es andere Themen, die die Kinder und Jugendlichen beschäftigen?

Die Teuerung spielt sicher mit. Eher weniger direkt bei den Kindern und Jugendlichen, aber indirekt über das Budget der gesamten Familie. Wenn in einer Familie kein Geld für Extras da ist, merken das Kinder und Jugendliche ganz stark. Und das kann bedeuten, dass sie an einem Lehrausgang nicht teilnehmen können, weil die Erziehungsberechtigten das nicht aufbringen können. Das hat dann auch wieder Auswirkungen darauf, wie oder ob sie sich in ein Sozialgefüge einbringen können. Gerade Schulausflüge machen ganz viel mit dem sozialen Miteinander.

Wenn in einer Familie kein Geld für Extras da ist, merken das Kinder und Jugendliche ganz stark. Und das kann bedeuten, dass sie an einem Lehrausgang nicht teilnehmen können, weil die Erziehungsberechtigten das nicht aufbringen können

Würden Konzepte, wie beispielsweise eine gemeinsame Schule, helfen?

Ich finde die Gesamtschule ein gutes und spannendes Konzept, aber nicht die alleinige Lösung aller Schulfragen. Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche davon profitieren können, wenn sie auch mit 10-14 gemeinsam unterrichtet werden, vorausgesetzt es gibt genug Ressourcen, den Unterricht allen Bedürfnissen entsprechend passend zu gestalten. Gerade an diesen Ressourcen scheitern wir aber gerade gesellschaftlich. Der zunehmende Lehrpersonenmangel wird jedes gute Konzept zerstören.

Eine gut geführte Gesamtschule mit ausreichenden Ressourcen, in der alle Kinder und Jugendlichen mit ihren jeweiligen Talenten gefördert und dort, wo sie Unterstützung brauchen, unterstützt werden, kann eine gute Bildungserfahrung für alle Beteiligten darstellen. Eine Gesamtschule ohne entsprechende Ressourcen ist vermutlich für alle Beteiligten genauso frustrierend, wie jede andere Schulsparte mit fehlenden Ressourcen auch.

Wenn sie an (bildungs-)politische Forderungen von selbsternannten „Bildungsexpert:innen“ oder auch der FPÖ denken, die kürzlich ein Jogginghosenverbot forderte: wie stehen Sie zu solchen Vorschlägen?

Ich finde, dass hier Debatten auf den Rücken von jungen Menschen ausgetragen werden, ohne mit ihnen darüber zu reden. Ein Argument, dass mit den Jogginghosen oft im selben Atemzug genannt wird, ist der Respekt. Grundsätzlich finde ich, dass Schule ein Ort sein soll, wo junge Menschen Lernerfahrungen machen. Sie sollen aber auch Erfahrungen machen, wie sie in einer Gruppe ankommen und worin oder womit sie sich wohl fühlen. Jugendliche verbringen so viel Zeit in der Schule, da sollen sie Kleidung tragen, in der sie gut lernen können. Und ich bezweifle, dass das in Kleidung, die unangenehm zu tragen ist, gut möglich ist. Worin sie sich wohl fühlen, sollen sie selbst entscheiden dürfen.

Das Argument, dass sie später in einem Bewerbungsgespräch nicht wissen, was sie anziehen wollen, halte ich auch für nicht stichhaltig. Das lernen sie nicht davon, was sie in der Schule tragen dürfen und was nicht, sondern dadurch, dass sich jemand mit ihnen damit beschäftigt, worauf es in einem Bewerbungsgespräch ankommt. Und das geht über die Frage der Kleidung hinaus. Mir als erwachsene Person tut es nicht weh, wenn mein Gegenüber Jogginghose trägt. Und wenn doch, sollte ich vielleicht hinterfragen, warum das so ist und was das bei mir auslöst, anstatt über die Körper von anderen entscheiden zu wollen.

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