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Jede zweite Schulnote in Mathematik ist eine Fehldiagnose

Österreichs Bildungssystem muss im 21. Jahrhundert ankommen. Das betrifft viele Bereiche: von der Gesamtschule, über den Stellenwert von Ziffernnoten bis zur Matura. Wer aus ideologischen Gründen die Debatte um sinnvolle Reformen verweigert, hat viel im Sinn: Aber sicher nicht die beste Schule für junge Menschen.

Seit jeher stellen sich konservative Parteien in Österreich gegen jegliche Bildungsreform, die der modernen Pädagogik Rechnung trägt. Das war in der Vergangenheit, ist in der Gegenwart und wird auch in Zukunft wohl immer so sein. Die Schule wird von ihnen seit jeher als Kampffeld verstanden, um die Ungleichheiten in der Gesellschaft und ein traditionell-konservatives Familienbild zu zementieren. Die Folgen davon sind bis heute sichtbar. In kaum einem anderen Land in Europa wird der Bildungsgrad so stark vererbt wie in Österreich. 

Dabei lägen fertige konkrete Konzepte zur Verbesserung der Situation am Tisch, die nicht nur den Bildungsbereich, sondern in ihren Nebenwirkungen auch viele andere Teile der Gesellschaft beeinflussen würden. Eine längst überfälliger Ausbau von Ganztagsschulen in ganz Österreich etwa gäbe dank ganztägiger Betreuung der Kinder vor allem in Teilzeit arbeitenden Frauen die Möglichkeit, endlich mehr Stunden arbeiten zu können. Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung im Arbeitsleben.

Der jüngste Vorstoß der SPÖ Wien zur Abschaffung der Matura in ihrer heutigen Form und der großflächigen Evaluierung von Ziffernnoten ist nur der jüngste Vorstoß, um mit sinnvollen Vorschlägen eine Debatte für ein gutes und modernes Bildungssystem anzustoßen. Die Diskussion an sich ist dabei keine neue. Bereits 2021 hat der SPÖ-Bundesparteitag auf Antrag der SJ die Forderung nach einer Abschaffung der Matura in ihrer heutigen Form beschlossen. Das Bekenntnis der Wiener SPÖ zu diesem Beschluss verdeutlicht lediglich den Handlungsbedarf in diesem Bereich.

Das Märchen von der leistungslosen Schule

Der Antrag der SPÖ Wien war noch nicht einmal intern beschlossen, rückten bereits konservative und rechte Parteien aus, um gegen den Vorschlag mobil zu machen. Stichhaltige Argumente etwa gegen eine Reform des Schulabschlusses wurden dabei jedoch keine vorgebracht. Vielmehr versuchte man den Vorwurf aufzubauen, die sozialistische Bewegung würde wollen, dass niemand mehr etwas leisten müsse in der Schule.

Dieser Gedankengang ist auf mehreren Ebenen absurd. Denn der aktuelle Aufbau der Schule ist vieles, aber nicht leistungsfördernd. Anstatt die Stärken von Jugendlichen auszuprägen und ihnen die Möglichkeit zu geben, zum Schulabschluss ihre Interessen zu vertiefen, fokussieren wir uns auf ihre Defizite. Eine gute Allgemeinbildung ohne Zweifel ist notwendig und Teil des Aufgabenbereiches der Institution Schule. Diese muss jedoch bereits weit vor dem Schulabschluss aufgebaut und gefestigt werden – die Matura kann das nicht leisten und leistet das auch aktuell nicht. 

Wer mindestens 12 Jahre lang volle Leistung gebracht und alle Prüfungen bestanden hat, braucht keinen finalen Entscheidungstag. SchülerInnen sollen stattdessen beweisen können, dass sie das über die Jahre gelernte auch wirklich anwenden können.

Daher ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Wer mindestens 12 Jahre lang volle Leistung gebracht und alle Prüfungen bestanden hat, braucht keinen finalen Entscheidungstag. SchülerInnen sollen stattdessen beweisen können, dass sie das über die Jahre gelernte auch wirklich anwenden können. Wir hingegen wollen, dass Jugendliche ihre Leistungsressourcen so einsetzen, dass sie langfristig Mehrwert daraus ziehen und sie damit in ihrer Leistung fördern – und schlagen daher vor den Schulabschluss nicht länger als einzelne Prüfung, sondern im Rahmen von praxisorientierten Projektarbeiten zu gestalten. Das erfordert konstante Leistungen, die auch nachhaltig einen guten Übergang in Studium oder Beruf herstellen können. Wer die Matura in ihrer heutigen Form als die einzige Möglichkeit zum Nachweis von Leistung sieht, hat die letzten 100 Jahre im bildungspolitischen Tiefschlaf verbracht.

Was messen Ziffernnoten eigentlich?

Ebenso absurd ist die Debatte um Ziffernnoten, die von konservativer Seite zum heiligen Gral des Bildungssystems erhoben werden. Eine Neugestaltung der Beurteilung bedeutet natürlich nicht, dass niemand mehr beurteilt wird. Dass konservative und rechte Parteien das suggerieren zeigt nur, dass sie kein Interesse an einer ehrlichen Debatte haben. In den vergangenen Jahren wurden im Rahmen von Schulversuchen in Volksschulen gute Erfahrungen mit ausformulierten Beurteilungen statt Ziffernnoten gemacht.

Die Vorteile dafür liegen klar auf der Hand. Eine ausdifferenzierte und individuelle Rückmeldung gibt Anreize, die guten Fächer weiter zu vertiefen (was bei einem 1er kaum mehr möglich ist) und an Schwächen zu arbeiten, ohne dabei die Scham eines Fünfers ertragen zu müssen. Das ist besonders für die Kleinsten in der Schule ein wichtiger Entwicklungsschritt.

Eine ausdifferenzierte und individuelle Rückmeldung gibt Anreize, die guten Fächer weiter zu vertiefen (was bei einem 1er kaum mehr möglich ist) und an Schwächen zu arbeiten, ohne dabei die Scham eines Fünfers ertragen zu müssen.

Doch nicht nur aus dieser Perspektive ist eine Weiterentwicklung von Ziffernnoten sinnvoll. Sie ist auch notwendig, weil Ziffernnoten in ihrer aktuellen Anwendung den komplexen Herausforderungen nicht gerecht werden. Aktuelle Untersuchungen bestätigen das, etwa im Bereich Mathematik. So stimmen nur rund 39 Prozent der Noten in den Mittelschulen und nur 47 Prozent der Noten in den Gymnasien mit dem tatsächlich gemessenen Kompetenzstand überein. Das heißt konkret: Jede zweite Schulnote in Mathematik ist eigentlich eine Fehldiagnose.

Trotz dieser Zahlen so zu tun, als würde es keinen Handlungsbedarf geben, ist verantwortungslos. Stellen wir uns diese Situation in einem anderen Bereich vor. Wenn in einem Krankenhaus jeder zweite ärztliche Befund ungenau oder gar falsch wäre, würde man sofort alles daran setzen, genauere Methoden zu entwickeln. Und das ist auch gut so. Warum gilt das allerdings nur im Krankenhaus und nicht im Bildungsbereich, der für die gesamte Gesellschaft eine ähnliche Wichtigkeit besitzt?

Ein Blick über den Tellerrand lohnt sich

Wie so oft sind es internationale Vergleiche, die uns zeigen, was alles möglich wäre, wenn der politische Wille da ist. Denn in Sachen Erfassung von Leistung und Kompetenzen sind uns einige Länder, die bei uns gerne als Vorbilder zitiert werden, einen großen Schritt voraus. So setzt sich der Schulabschluss etwa in Schweden aus der Absolvierung von Kursen zusammen, die im Laufe der Oberstufe von den SchülerInnen absolviert werden müssen. Einen konstruktiven Zugang zur Leistungsbeurteilung wurde etwa in Norwegen gefunden, hier kommen Ziffernnoten zumeist erst ab der 8. Schulstufe zum Einsatz. Der Grund? Man scheint erkannt zu haben, dass diese den SchülerInnen besseres Feedback und mehr Lernmotivation geben.

Es ist also höchste Zeit, dass im Bildungssystem die ideologische Blockadehaltung der Konservativen gegenüber allen konstruktiven Vorschlägen aufgegeben wird.

Auch wenn es für manche Kommentatoren kaum zu glauben scheint: Weder sind die Jugendlichen in Schweden oder Norwegen in der vergangenen Zeit gänzlich verblödet, noch ist das Schulsystem kollabiert, weil niemand von den SchülerInnen mehr etwas leisten wollte. Es ist also höchste Zeit, dass im Bildungssystem die ideologische Blockadehaltung der Konservativen gegenüber allen konstruktiven Vorschlägen aufgegeben wird. Nur so erreichen wir die besten Bildungseinrichtungen für unsere Kinder und Jugendlichen. Und was sonst sollte sonst bitte das Ziel staatlicher Bildungspolitik sein.

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2 Kommentare

Antworten
  1. Schulnoten-Fehldiagnose ? Ja !

    Höre ich heute Gesamtschule, krieg ich Schüttelfrost. Unter den herrschenden (!)
    Zuständen von früh bis spät in der Schule ?
    Ganztagsbetreuung ? Schrecklich ! Damit Frauen mehr Stunden sich in der Arbeitswelt “verwirklichen können” , malochen müssen ?
    Als ob Leben nichts wär als Lohnarbeit !

    Heute, wo Familien zerbröseln und Kinder auf der Strecke bleiben, braucht es einen anderen Ansatz, Herr Stich !

    • Auf der Strecke geblieben sind wir Arbeiterkinder damals auch alle! Das notwendigste an Wissen eingetrichtert bekommen, ohne dass je auf die verschiedenen Begabungen geachtet wurde.
      Besser sah es da in den Gymnasien aus, wo sich die Kinder der Oberschicht tummelten. Unsere Eltern getrauten sich nicht, uns Kinder in’s Gymnasium zu schicken. Zuviel Angst vor der Arroganz der Gymnasiallehrer, die ja fast alle in den konservativen Kreisen verkehrten.
      Hat sich später zum Glück schon geändert, aber es war und ist immer noch ein hartes Ringen, damals mit der ÖVP und heute mit ÖVP/FPÖ, wenn es um ein brauchbares Bildungssystem für Alle geht, dass seinen Namen auch verdienen würde. In Privatschule ja, da funktioniert’s! So schaut’s aus!
      PS: Ich wohne direkt neben der einzigen Forstschule Österreichs! Da spielt Geld keine Rolle. Und darum ist es auch eine tolle Schule! An Tagen der “Offenen Türen” schauen wir uns das immer gerne an. Aber da kommen die Schüler, aus fast ausschließlich konservativen Elternhäuser.

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